Wahlzettel-Selfies doch nicht strafbar

Screenshot und Bearbeitung: TP

Die Staatsanwaltschaft Wiesbaden hat ein Sammelverfahren aus 42 Strafanzeigen des Bundeswahlleiters eingestellt

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Am 20. September 2017, kurz vor der letzten Bundestagswahl, verbreitete Fernsehnacktpromi Micaela Schäfer via Instagram ein Foto, auf dem sie lediglich mit einer Fadenunterhose bekleidet neben einem ausgefüllten Stimmzettel liegt. Dazu schrieb sie: "Natürlich gehe auch ich wählen. Ich habe per Briefwahl meine Stimme abgegeben - ich wähle die CDU und damit unsere Bundeskanzlerin. Wen wählt ihr eigentlich meine Süßen?" Dazu fügte sie die Hashtags "#CDU" und "#AngelaMerkel", "#gehtWählen", "#TeamMerkel" und "#Wählenistwichtig" an.

Damit sammelte die brust- und nasenkorrigierte Schulabbrecherin nicht nur Likes, sondern auch Fragen, ob diese Werbung für die Bundeskanzlerin und ihre Regierungspartei legal war. Im Paragrafen 107c des Strafgesetzbuches (StGB) heißt es nämlich unter der Überschrift "Verletzung des Wahlgeheimnisses":

Wer einer dem Schutz des Wahlgeheimnisses dienenden Vorschrift in der Absicht zuwiderhandelt, sich oder einem anderen Kenntnis davon zu verschaffen, wie jemand gewählt hat, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Der Bundeswahlleiter interpretierte diese Vorschrift dahingehend, dass mit "jemand" auch die eigene Person gemeint sein kann, und stellte im Oktober Strafanzeigen gegen insgesamt 42 Personen, die in Sozialen Medien Bilder ausgefüllter Stimmzettel gepostet hatten.

Rechtsmeinungsverschiedenheit mit dem Bundeswahlleiter

Nun hat die Staatsanwaltschaft Wiesbaden mitgeteilt, dass ein Sammelermittlungsverfahren dazu am 8. März eingestellt wurde, weil "keine zureichenden Anhaltspunkte [vorlagen], dass fremde [Hervorhebung TP] Wahlentscheidungen veröffentlicht wurden". Mit dieser Begründung zeigt sie, dass sie den Paragrafen 107c StGB anders liest als der Bundeswahlleiter und das "jemand" nicht auch auf die eigene Person bezieht. Das bestätigte Oberstaatsanwalt Oliver Kuhn der Tageszeitung Die Welt explizit, indem er ihr die Auskunft gab, "die Absicht der Kenntniserlangung der eigenen Wahlentscheidung [sei] von der Strafnorm des Paragraf 107c Strafgesetzbuch nicht umfasst."

"Jemand" ungleich "Wer"

Was für die Welt "überraschend" kommt, ist für die Experten von Wahlrecht.de eine Bestätigung ihrer Rechtsauffassung. Sie hatten bereits vorher darauf hingewiesen, dass ein "jemand" in einem Rechtstext nicht gleichbedeutend mit einem "wer" ist.

Vom Bundeswahlleiter, der gestern nicht erreichbar war, gibt es bislang keine Stellungnahme dazu. Auf seiner Website heißt es weiterhin:

Vor und nach der Wahlhandlung darf das Stimmverhalten offenbart werden. Etwas anderes gilt für die Wahlhandlung selbst: eine wahlberechtigte Person darf nicht nur, sondern sie muss geheim wählen. Deshalb muss sie die zur Sicherung des Wahlgeheimnisses erlassenen Vorschriften einhalten und den Anordnungen des Wahlvorstands im Wahlraum Folge leisten.

Das "Film- und Fotografierverbot in den Wahlkabinen", auf das in diesem Zusammenhang hingewiesen wird, steht seit April 2017 im Paragrafen 56 der Bundeswahlordnung (BWO). Dort heißt es, dass Wähler, die in der Wahlkabine ihren Stimmzettel fotografieren, vom Wahlvorstand "zurückzuweisen" sind. Für die Briefwahl gibt es keine entsprechende Vorschrift.

Keine Auswirkungen auf Bußgeld für Bystron

Dass Micaela Schäfer nach Ansicht der Staatsanwaltschaft Wiesbaden mit ihrem Wahlzettel-Selfie nicht gegen den Paragrafen 107c des Strafgesetzbuchs verstoßen hat, bedeutet nicht, dass der AfD-Bundestagsabgeordnete Petr Bystron (vgl. "Die AfD ist in einem politischen Vakuum entstanden") die tausend Euro Bußgeld nicht zahlen muss, die Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble letzte Woche gegen ihn verhängte, weil Bystron seine Nein-Stimme bei der Kanzlerwahl im Bundestag fotografiert und mit dem Satz "Nicht meine Kanzlerin" getwittert hatte. Das vom CDU-Politiker verhängte Bußgeld beruht nämlich nicht auf dem Paragrafen 107c des Strafgesetzbuchs, sondern auf Schäubles Einstufung, dass Bystrons "bewusster Verstoß gegen den Grundsatz der Geheimhaltung der Wahl" eine "schwerwiegende Verletzung der Ordnung und Würde des Bundestags" sei.

Bystron meinte auf Anfrage von Telepolis dazu, jeder müsse sich selbst fragen, ob ein Bekanntmachen des eigenen Abstimmungsverhaltens eine Verletzung von Ordnung und Würde des Bundestages ist, wenn es die vielen namentlichen Abstimmungen im Bundestag nicht sind. Das Bußgeld will er trotzdem bezahlen und sogar verdoppeln - aber nicht für die "Bürokratie", sondern nur an Opfer und Hinterbliebene von Vergewaltigungen, Terroranschlägen und anderen Gewalttaten.