Milliarden-Dollar-Bankenschwindel versetzt die indische Politik in Aufregung

Indiens öffentliche Banken werden geschröpft - am Ende zahlt die Allgemeinheit, das ist auch in Europa nicht anders. Foto: Gilbert Kolonko

Regierung und Opposition beschuldigen sich gegenseitig der Fahrlässigkeit

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In Indien wurde bekannt, dass der international bekannte indische Diamantenhändler Nirav Modi von der staatlichen Punjab Bank Kredite im Wert bis zu 1,8 Milliarden US-Dollar durch gefälschte Papiere ergaunert hat. Da Fotos existieren, die Premierminister Narendra Modi beim Weltwirtschafts-Gipfel Ende Januar in Davos zusammen mit dem Namensvetter zeigen, beschuldigt die oppositionelle Kongresspartei den Premierminister, dem Schwindler den "Raub" und die Flucht ermöglicht zu haben.

Die Vorwürfe haben jedoch einen Haken - der Bankenschwindel begann nachweislich schon im Jahr 2011, als die Kongresspartei in einer Koalition das Land regierte. Nirav Modi und sein Onkel Mehul Choksi ließen sich von mindestens 15 Mitarbeitern der mittleren Ebene der Punjab Bank Kreditbürgschaften aushändigen, mit denen sich die beiden Beschuldigten im Ausland bei 25 Banken die Milliarden auszahlen ließen. Es gibt erste Indizien, die darauf hindeuten, dass der Schwindel schon 2004 begann und mehr als 3 Milliarden US-Dollar ergaunert worden sind.

Auch Vikram Kothari nutzte mit seiner Firma Rotamac Pens die Löcher des Bürgschaftssystems der öffentlichen Banken und ergaunerte 570 Millionen US-Dollar. Es hat sich mittlerweile herausgestellt, dass zwei Umstände die "Bankräuber" begünstigten: Gier nach Provisionen der Bankvorgesetzten und politischer Druck, erfolgreiche Unternehmen nicht in ihrer Arbeit, "Wachstum" zu produzieren, zu stören. So wurde von Seiten der Banken umso weniger nachgehakt, je höher der Betrag der beantragten Bürgschaft wurde – während der kleine Mann Indiens schon bei Krediten von ein paar tausend Rupien unzählige Formulare auszufüllen und Erklärungen abzugeben hat.

Dazu flammt erneut der Bofor-Skandal auf, ein Waffendeal der Rajiv-Gandhi-Regierung mit Schweden in den 1980er Jahren. Der indischen Bundespolizeibehörde CBI liegen neue Fakten vor, die den Vorwurf erhärten, dass Mitglieder der damaligen Kongresspartei Schmiergelder in Höhe von 10 Millionen Dollar von der schwedischen Bofor-Bank angenommen haben. Auch im aktuellen Nirav-Modi-Skandal war es die CBI, die Anfang Januar Anklage erstattete und nun Interpol um Mithilfe zur Ergreifung der Verdächtigen bat. Dass indische Behörden mittlerweile ermitteln, ohne auf politische Interessen Rücksicht zu nehmen, ist ein Zeichen, dass sich in Indien auch Positives tut.

Dass wieder eine öffentliche Bank in Indien auf Krediten oder Bürgschaften sitzen bleibt, ist jedoch keine Ausnahme: Es sind mittlerweile mindestens 48 Milliarden US-Dollar fauler Kredite, für die der indische Staat haften muss. Die Modi-Regierung verhinderte bis jetzt, dass die Namen der größten Schuldner genannt werden - schließlich ist mit 20 Milliarden US-Dollar der Modi-freundliche Konzern Reliance Industries darunter, wie ein Bericht der Schweizer Bank Credit Suisse aus dem Jahr 2015 enthüllte (vgl. Indien: Die Entlarvung des Heilsbringers).

Doch der größte Teil der faulen Kredite stammt aus der Regierungszeit der Kongresspartei. Dass die Regierung nun die faulen Kredite wegbilanzieren möchte, um zu verhindern, dass der ein oder andere heimische Konzern in Zahlungsschwierigkeiten gerät, ist auch in Europa gang und gäbe. Ebenso der aktuelle Verlauf eines Waffendeals mit Frankreich: Das französische Kampfflugzeug Rafale ist plötzlich drei Mal teurer, als zu Regierungszeiten der Kongresspartei mit Frankreich vereinbart - und anstatt des staatlichen Flugzeugbauers Hindustan Aeronautics, der 40 Jahre Erfahrungen im Bau von Kampfflugzeugen hat, ist plötzlich Reliance Industrie trotz Mangel an Erfahrung am Bau der Rafale beteiligt.

Wenn es nur darum ginge, wer weniger korrupt ist, würden die Liberalen Indiens, wie die gesellschaftlich, sozial Engagierten nicht viele Gedanken an die Kongresspartei verschenken - linke Alternativen gibt es auf Bundesebene nicht mehr, seitdem die ehemals populären kommunistischen Parteien Indiens bewiesen haben, dass sie den Etablierten in Sachen Korruption nicht nachstehen.

BJP und Kongresspartei arbeiten zusammen, wenn es gegen Dritte geht

Dass die neoliberale Modi-Regierung ein Jahr vor den Wahlen 2019 ihre soziale Ader entdeckt und Wahlgeschenke für die sozial Schwachen verteilt, hat die Kongresspartei jahrzehntelang nicht anders gehalten. Mit der sogenannten Modicare möchte die Regierung 100 Millionen armen Familien eine kostengünstige Krankenversicherung zukommen lassen. 1,78 Milliarden US-Dollar soll das Geschenk kosten, doch bis jetzt sind nicht einmal 20 Prozent der Mittel im aktuellen Haushalt gedeckt.

Neu ist die Idee einer kostengünstigen Krankenversicherung für die Armen Indiens nicht. 2008 hatte der damalige Premierminister Manmohan Singh von der Kongresspartei ähnliches gestartet - von angepeilten 70 Millionen Familien, schlossen am Ende gerade einmal die Hälfte die staatlich subventionierte Versicherung ab.

Ein Blick auf die jüngsten Wahlen im Februar 2017 im Punjab zeigt, dass sich BJP und Kongress näher sind, als es scheint: Als dort einen Tag vor der Stimmabgabe deutlich wurde, dass Modis BJP keine Chance auf einen Sieg haben würde, riefen die örtlichen Anführer der paramilitärischen RSS ihre Anhänger dazu auf, den vermeintlichen Erzfeind, die Kongresspartei, zu wählen, um Kejriwals Aam Aadmi Party (AAP) ein möglichst schlechtes Ergebnis zu bescheren.

Die AAP war im Jahr 2012 aus einer Antikorruptionsbewegung hervorgegangen und hatte bei den Wahlen 2015 in Delhi 67 von 70 Sitzen gewonnen. Seit Jahrzehnten wechseln Abgeordnete von BJP und Kongress nach den Wahlen ins Gewinnerlager - nichts wäre schlimmer für die Etablierten, als eine wirkliche politische Alternative auf Landesebene.

Viele Inder müssen erst lernen, dass sie sich gegen die indischen Realitäten wehren können. Foto: Gilbert Kolonko

Doch in Indien zeigen Menschen wie der Anwalt Colin Gonsalves, Gewinner des Alternativen Nobelpreises 2017, dass das Land eine Demokratie ist, und sich der Mensch mit legalen Mitteln währen kann. Im Jahr 2001 klagte er zusammen mit anderen Anwälten vor Gericht auf das Recht auf Nahrung - 12 Jahre später musste die Politik dieses Recht in ein Gesetz verankern.

So machen Gewerkschaftler und Aktivisten überall in Indien weiter Druck - weitgehend unbeachtet von den großen Medien. Zum Beispiel in Kolkata:

"84,7 % Prozent der indischen Arbeiter sind im informellen Sektor tätig, ohne Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherungen oder gestellten Arbeitsschutzmitteln. Gerade auf dem Land sind die Beschäftigten der Willkür der Arbeitgeber ausgesetzt. Wir besuchen regelmäßig die Dörfer, wo zum Beispiel Frauen im Akkord für ein bis zwei Dollar am Tag Bivis (lokale Zigaretten) drehen und informieren, dass sie auch Rechte haben. Alle paar Monate melden wir dann eine Demonstration an und begleiten die Dorfbewohner dabei", sagt der Aktivist Sushovan, während etwa 1000 ländliche Arbeiter anfänglich schüchtern durch die Straßen der Megametropole marschieren.

"Für viele Inder ist Korruption völlig normal, weil sie es gewohnt sind, dass der mit dem meisten Geld das Sagen hat. Wir versuchen ihnen beizubringen, sich zu organisieren und sich bemerkbar zu machen, weil sie die gleichen Rechte haben, wie alle anderen." Nach einer halben Stunde sind es die Frauen die zuerst ihre Befangenheit abstreifen und laut abgesicherte Arbeitsverträge für alle Inder fordern - einige stolz, andere ab und zu ungläubig kichernd, dass die Straßen der bengalischen Metropole wegen ihres kleinen Umzuges gesperrt worden sind."