EGMR verurteilt Türkei: Rechte von Journalisten verletzt

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte steht wegen seines zögerlichen Vorgehens dennoch weiter in der Kritik

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Seit dem Putschversuch vom Sommer 2016 steht die Türkei wegen massiven Menschenrechtsverletzungen in der Kritik. Zehntausende Menschen wurden unter fadenscheinigen Begründungen verhaftet, mehr als Hunderttausend verloren aus politischen Gründen ihre Arbeit.

Die Gefängnisse sind so überfüllt, dass der Staat kaum mit dem Bau neuer Haftanstalten hinterherkommt. Laut Berichten der Vereinten Nationen und Amnesty International sowie nach Aussagen von Anwälten und Betroffenen findet in einigen Haftanstalten schwere Folter statt.

Einem toten Folteropfer wird die Rückkehr gestattet

Aufsehen erregte unlängst der Fall des Geschichtslehrers Gökhan Acikkollu. Er wurde unmittelbar nach dem Putschversuch verhaftet. Man warf ihm Verbindungen zur Gülen-Bewegung vor, die von der Regierungspartei AKP für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird. Am 5. August 2016 verstarb Acikkollu. Offiziell hieß es erst, sein Tod sei aufgrund eines Herzversagens, ausgelöst durch seine Diabeteserkrankung eingetreten.

Später stellte sich heraus, dass er in der Haft schwer gefoltert worden war. Anschließend verweigerten die Behörden seiner Familie eine islamische Bestattung. Nur mit Mühe gelang es den Angehörigen, eine Beerdigung in seinem Heimatort durchzusetzen. Zuerst sollte er auf einem Verräterfriedhof, der eigens für vermeintliche Putschisten angelegt worden war, verscharrt werden. Am 20. Februar 2018 erhielt Acikkollus Familie ein Schreiben, das den Lehrer entlastete und ihm die Rückkehr in seinen Beruf gestattete. Da war er bereits seit eineinhalb Jahren tot.

Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Der Fall Acikkollu ist bezeichnend vor dem Hintergrund, dass tausende Betroffene vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen ihre Behandlung geklagt haben - und abgewiesen wurden.

Der EGMR begründete die Ablehnungen damit, dass die Kläger erst innerhalb der Türkei den Rechtsweg ausschöpfen müssten. Das mag aus bürokratischer Perspektive zwar korrekt sein, ignoriert aber völlig, dass es in der Türkei kein funktionierendes unabhängiges Justizsystem mehr gibt.

Tagtäglich werden Gesinnungsurteile gefällt. Nur ganz vereinzelt kommt es noch vor, dass Richter oder Staatsanwälte sich gegen die staatliche Hexenjagd gegen Andersdenkende stellen - und dabei selbst ihren Job und ihre Freiheit riskieren.

Vor dem EGMR geklagt hatten auch die beiden Journalisten Sahin Alpay und Mehmet Altan. Im Januar hatte das türkische Verfassungsgericht ihre Inhaftierung für unrechtmäßig erklärt und ihre Freilassung angeordnet.

Doch das zuständige Strafgericht in Istanbul weigerte sich, die Weisung des höchsten Justizorgans umzusetzen. Vertreter der AKP; darunter auch Staatspräsident Erdogan, hatten die Verfassungsrichter scharf kritisiert und ihnen vorgeworfen, ihre Kompetenzen zu überschreiten.

Ein Präzedenzfall?

Während Alpay am vergangenen Freitag aus der U-Haft entlassen, sein Pass aber konfisziert wurde, ist Mehmet Altan weiter in Haft. Dessen Bruder Ahmet Altan, der als einer der wichtigsten Intellektuellen des Landes gilt, wurde inzwischen zu lebenslanger Haft verurteilt.

Im Fall Alpay und Altan hat der EGMR heute ein lang erwartetes Urteil gefällt: Deren Behandlung verletzt ihre Grundrechte, stellten die Richter fest. Die Frage ist, wie die türkische Regierung das Urteil nun aufnimmt. Formal ist es bindend - auch Altan müsste nun entlassen werden.

Falls das geschieht, könnte das Urteil zu einem Präzedenzfall werden, der auch alle anderen noch inhaftierten Journalisten und Schriftsteller betrifft. Denn wie das Verfassungsgericht hat auch der EGMR geurteilt, dass die Haft einen Verstoß gegen Meinungs- und Pressefreiheit darstellt.

Den mehr als sechzigtausend anderen Inhaftierten hilft das allerdings nicht. Auch sie brauchen ein Urteil aus Straßburg. Dass ein auszuschöpfender Rechtsweg nicht existiert, wenn ein einzelnes Strafgericht Entscheidungen der Verfassungsrichter blockieren kann, sollte auch den Verantwortlichen beim EGMR einleuchten.