IS war Steuerstaat

Die Hosenstutzanleitung des Islamischen Staats

Datenjournalismus der New York Times zeigt, dass sich die Organisation weniger als bislang geglaubt mit Öl finanzierte

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Eine vor 15 Monaten begonnene und jetzt durch die New York Times veröffentlichte Auswertung von etwa 15.000 Dokumenten aus dem Islamischen Staat (IS) zeigt, dass sich die Organisation vor allem durch Steuern finanzierte: Die erhob sie in den von ihr zwischen 2014 und 2017 beherrschten Gebieten nicht nur in Form einer allgemeinen Zakat-Zwangsabgabe, sondern auch auf die Produktion und die Bearbeitung von, den Handel mit, und sogar auf den Transport von landwirtschaftlichen und anderen Gütern. Alleine mit Getreide soll der IS dadurch auf dem Höhepunkt seiner Macht jeden Tag 1,9 Millionen Dollar kassiert haben.

"Schiiten, Apostaten, Christen, Alawiten und Jesiden" enteignete man nicht über Steuern, sondern direkt, wie eine Dienstanweisung für Beamte zeigt. Enteignete landwirtschaftliche Güter "sunnitisierte" der IS durch Verpachtung. Ein "Ministerium für Kriegsbeute" verwertete sogar die Möbel der vertriebenen oder getöteten "Ungläubigen" und verteilte sie unter anderem an aus Europa zugezogene Salafisten.

So erhielt beispielsweise Kahina el-H., die aus Frankreich kommende Ehefrau eines der Bataclan-Terroristen, eine miet- und energiekostenfreie Wohnung, in der "nicht einmal eine Gabel" fehlte, wie sie ihrem ehemaligen Lehrer begeistert in einer E-Mail berichtete. In Briefen auf Papier, die bei der Zerstörung des Ministeriums nicht verbrannten, erkundigen sich Anhänger des IS unter anderem nach Plasmafernsehern und Waschmaschinen.

Sechs Mal so viel Geld aus Steuern wie aus Öl

Der New York Times zufolge ergab die Auswertung der Finanzströme, dass der IS mit Steuern sechs Mal so viel Geld einnahm wie mit dem Verkauf von Öl aus den eroberten Gebieten im Norden des Irak und im Westen Syriens, den man vorher für eine deutliche wichtigere Einnahmequelle gehalten hatten: Analysten aus Dubai und Luay al-Khatteeb vom Think Tank Brookings Institution gingen im Herbst 2014 von bis zu drei Millionen Dollar Öleinnahmen täglich aus, das US-Schatzamt schätzte im selben Jahr, dass mit den damals vom Terrorkalifat kontrollierten elf größeren Ölquellen in Syrien und im Irak Erlöse in Höhe von etwa einer Million US-Dollar täglich erwirtschaftet wurden.

Dass sich das Schatzamt (wie es selbst zugab) dabei kaum auf belastbare Zahlen stützen konnte, darauf wies bereits die recht runde Summe hin (vgl. Syrien: Kampf ums letzte Ölfeld). Die Erwartung, dass sich der IS zu einem großen Teil aus Ölverkäufen finanziert, war auch Grundlage der massiven Bombardements von Förderanlagen, Raffinerien und Konvois (vgl. Syrien: USA starten Luftoffensive auf Ölfelder unter IS-Kontrolle).

Anwesenheitspflicht und Strafen

Die Einnahmen aus Steuern sprudelten auch deshalb, weil die Salafisten irakische und syrische Verwaltungsbeamte weiterarbeiten ließen. In Mosul informierten sie sie kurz nach der Einnahme der Stadt mit Lautsprecherwagen, dass sie sich an ihren Arbeitsstellen zu melden hätten, wo man die Anwesenheit mit Unterschriftslisten kontrollierte. Danach folgten Telefonanrufe, die sicherstellen sollen, dass niemand zuhause bleibt. Wer sich wegen Rückenschmerzen krank melden wollte, dem sagte man angeblich, man werde persönlich vorbeikommen und sich um den Rücken kümmern.

Die Strafen, die den Beamten bei Verfehlungen drohten, scheinen in der Bevölkerung zu einem Eindruck beigetragen zu haben, der an Äußerungen nach dem Fall Hitlerdeutschlands erinnert: Einwohnern Mosuls nach funktionierten die Wasserversorgung, der Straßenverkehr, die Müllabfuhr, die Stromversorgung und die Verwaltung während der Terrorherrschaft reibungsloser als vorher und nachher.

Moralpolizei

Nachdem die Beamten zu Anfang der neuen Herrschaft die Symbole der alten auf den Briefköpfen und Formularen noch mit Filzstiften übermalen mussten, kamen bald neue mit dem "Siegel des Propheten". Außerdem benannte der IS 14 Behörden unter Rückgriff auf einen Ausdruck aus dem 7. Jahrhundert in "Diwans" um.

Später eröffnete man auch neue staatliche Einrichtungen, darunter die Hisba, die Moralpolizei. Die kontrollierte unter anderem, dass die Beamten ihre Bärte nicht rasierten und keine Hosen trugen, die an oder über die Knöchel reichten. Um zu veranschaulichen, wie Ehefrauen die Hosen ihrer Männer kürzen sollen, ließ die Behörde eine Broschüre anfertigen.

Zu dem Team, das die Dokumente für die New York Times auswertete, gehörten unter anderem Aymenn Jawad al-Tamimi, der ein eigenes Archiv zum Islamischen Staat aufgebaut hat, die Yale-Islamexpertin Mara Revkin, und Mitarbeiter des West Point’s Combating Terrorism Center. Federführend war die Korrespondentin Rukmini Callimachi, die weitere als die jetzt veröffentlichten Erkenntnisse in ihrem Podcast senden will. Danach sollen die Dokumente anderen Forschern zugänglich gemacht werden.