Ist Afrin jetzt Teil der türkischen Provinz Antakya?

Kurdische Kämpfer. Bild: YPJ

Türkische Strategie: Das Iskenderun-Modell, die Verfolgung von Minderheiten und der "Goldene Apfel"

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Ende März ernannte der türkische Präsident Erdogan den Gouverneur der Provinz Hatay (Türkei) zum gleichzeitigen Gouverneur von Afrin. Die Internetzeitung Ahvalnews berichtete, dass Afrin nun als Teil der türkischen Provinz Antakya regiert und eine 450 Personen starke Polizeitruppe aufgestellt werden solle. Damit ist eingetreten, was warnende Stimmen prophezeit hatten: Afrin wird de facto der Türkei einverleibt. Dies hatte Erdogan mit seinen neo-osmanischen Ideen schon lange im Auge, doch keiner nahm ihn ernst (Erdogan will Gouverneur in Afrin ernennen).

In Manbij bereitet man sich indessen auf einen türkischen Angriff vor. Mehrere hundert amerikanische und französische Elitesoldaten patroullieren entlang der türkischen Frontlinie. Steht dort eine Konfrontation der Nato-Länder Türkei gegen die Nato-Länder USA, Frankreich und möglicherweise Großbritannien bevor? Im Nordirak rückt die türkische Armee ebenfalls vor. Türkische Kampfjets bombardierten erstmals Dörfer in der Nähe der Hauptstadt der kurdischen Autonomieregion Erbil

Indizien einer türkischen Landnahme Nordsyriens häufen sich

Verwaltung wird mit türkischem und Türkei-treuem Personal besetzt

Im Januar dieses Jahres machte der türkische Innenminister Süleyman Soylu auf einem AKP-Kongress in Denizli die Annexionspläne öffentlich. "Wir sind eine große Nation des Friedens, den wir in Cerablus, Mare, Azaz, al-Bab und entlang einer Grenze von 2000 Kilometern geschaffen haben. Ich sage das als Innenminister. Wir haben unsere Landräte, Polizeidirektoren und Gendameriekommandanten in Azaz, Cerablus und Mare."

Ein von der YPG/YPJ festgenommener Milizionär der Proxy-Truppen der Türkei hat dies in einem von der kurdischen Nachrichtenagentur ANF veröffentlichtem Video bestätigt: Der Gefangene Ebdo Ehmed Îsmail erklärte gegenüber ANF, der türkische Staat habe seiner Gruppe versprochen, mit der Einnahme Afrins könne das Gebiet zwischen Jarablus, Azaz und Al- Bab mit Idlib verbunden und letztendlich von der Türkei verwaltet werden.

Die von der Türkei in der Verwaltung des nordsyrischen kurdischen Kantons Afrin eingesetzten Beamten sind nach einer Meldung von ANF bekannte Personen, die entweder aus al-Qaida-Kreisen oder dem kriminellen Milieu stammen. So soll zum Beispiel der Exekutivrat von Cindirez aus Mitgliedern von IS, von al-Nusra und des Kurdischen Nationalrat ENKS gebildet worden sein.

Dazu gehören z.B. Necim Ebdulrehman Kûsa und Xalib Ebdulrehman Kûsa aus der Familie Kindirî, die für ihre engen Beziehungen zum Al-Qaida-Ableger al-Nusra bekannt sind. Die beiden Personen hatten zuletzt den Kontrollpunkt am Eingang der Stadt angegriffen und wurden daraufhin von den Asayîş-Sicherheitskräften festgenommen worden. Oder Mihemed Şêx Diyab und Sibhî Şêx Diyab, die zur El-Eşqer-Familie gehören. Viele Familienmitglieder sollen noch immer eine aktive Rolle bei al-Nusra spielen. Auch Mehmûd Elî Mede, Mihemed Elî Mede und Ehmed Elî Mede, Brüder aus der Elî-Mede-Familie, die für ihre Verbindungen zum IS bekannt sein sollen, sind nach ANF-Angaben Teil der von der Türkei eingesetzten Regierung.

Reşîd Mehmûd (Reşîd Kehrebçî) aus Hemam ist Mitglied der ENKS (Kurdischer Nationalrat), stammt aus der Reşo-Familie und hat gemeinsam mit seinem Sohn am 16. März 2013 das Feuer auf Demonstranten eröffnet, die gegen das Massaker von Aleppo protestierten. "Vom türkischen Staat wurde ebenfalls Welîd Ebûd aus dem Dorf Mihemedi in den Rat berufen. Er ist in der Region als Glücksspieler bekannt und war deswegen dutzende Male vom Asayîş festgenommen worden … Menschen aus der Region berichten, dass man nun auch begonnen habe, die Miliz Faylaq al-Rahman in der Region anzusiedeln." Die ANF-Informationen können allerdings nicht überprüft werden, weil unabhängige Medien vor Ort nicht präsent sind. Alle Medien stützen sich auf Informanten vor Ort, ANF verfügt allerdings über ein großes Netzwerk an Informationsquellen.

Türkisches Bildungssystem wird eingeführt

Nun tauchen nach Dscharablus die ersten Bilder auch aus Afrin auf, auf denen Schulkinder bestückt mit Türkei-Fähnchen, Luftballons und Koran artig auf den Schulbänken sitzen. Im Hintergrund prangt das riesige Konterfei von "Reis" Erdogan. Auf dem Schulhof müssen die Kinder auf Türkisch den türkischen Präsidenten in Sprechchören huldigen.

Religiöse Minderheiten werden zwangskonvertiert

Die in Nordsyrien ansässige Nachrichtenagentur ANHA berichtet, dass ezidische Dorfbewohner in Afrin gezwungen werden, zum Islam zu konvertieren. Immer mehr Mädchen und junge Frauen verschwinden.

Eine Mutter erzählt: "Auf der Suche nach meiner Tochter habe ich erfahren, dass eine ganze Reihe Mädchen verschwunden sind. Bisher bin ich auf 15 Fälle gestoßen, bei denen Frauen und Mädchen zwischen 14 und 20 Jahren verschwunden sind. Das sind allerdings lediglich die Fälle aus meinem Viertel." Die Mädchen und Frauen sollen in einigen Häusern auf der Vilayet-Straße im Stadtzentrum festgehalten werden. Ein Araber bestätigte die Informationen: "Ein Anführer der an die Türkei angeschlossenen Söldnergruppierung Hamza-Division fährt durch die Straßen und sammelt die jungen Frauen ein. Diese Mädchen werden in Häuser in der Vilayet Straße gebracht und türkischen Soldaten sowie Milizen dargereicht."

Überprüfen lassen sich diese Aussagen nicht, da es kaum ausländische Journalisten vor Ort gibt. Allerdings sind die sozialen Medien voll von solchen Meldungen. Die Bewohner Afrin kommunizieren darüber. Da sich unter den türkischen Hilfstruppen auch IS-Mitglieder befinden, ist zu erwarten, dass sich nun in Afrin ähnliche Gräueltaten wiederholen wie 2014 im irakischen Shengal-Gebiet. Es gibt auch Berichte, dass die Türkei IS-Mitglieder freigelassen hat, obwohl Belege vorlagen, dass sie an Enthauptungen teilgenommen haben. Es ist nicht auszuschließen, dass sich unter den von der Türkei nach Afrin entsandten IS-Kämpfern genau diese skrupellosen Mordmaschinen befinden.

Dscharablus ist seit August 2017 de facto Teil der türkischen Provinz Gaziantep

Tatsächlich ist die Besetzung Afrins nur die Fortsetzung der Annexion der Grenzstadt Dscharablus. Im August 2016 überließ der IS die Grenzstadt den türkischen Militärs. Schon damals waren an der Übernahme bekannte islamistische Gruppen beteiligt. Telepolis berichtete mehrfach darüber.

Im August 2017 gab laut einer Meldung des Tagesspiegels in der Printausgabe vom 24.August 2017 Erdogan die Ernennung eines türkischen Gouverneurs aus der türkischen Provinz Gaziantep für die annektierten Gebiete in Nordsyrien bekannt.

Seitdem hat sich das Leben in Dscharablus grundlegend geändert. An den Verwaltungsgebäuden hängen türkische Fahnen. Alle Bezeichnungen der öffentlichen Gebäude sind in türkischer Sprache. In den Schulen wird türkisch gelehrt. Es gibt mittlerweile sogar eine Dependance einer türkischen Universität. Türkische Geschäfte säumen die Straßen. Frauen und Mädchen tragen fast durchweg Kopftuch oder Vollverschleierung. Islamistische Milizen und türkische Polizei und Militär sorgen für "Recht und Ordnung".

Die türkische Regierung hat auch damit begonnen, Gefängnisse auf syrischem Territorium zu bauen. Vom einst bunten multikulturellen Leben ist nichts mehr geblieben. Man fühlt sich ins tiefste türkische Zentralanatolien versetzt. Dort, beispielsweise rund um die Stadt Konya, haben seit jeher die Islamisten das Sagen. Die Reaktion des Westens auf diese Annexionen? Keine.

Das Iskenderun-Modell

Die Annexion von Dscharablus und Afrin erinnert an die Geschichte der Hatay-Übernahme 1938. Damals rückte der türkische Staat als "Sicherheitskraft" in das syrische Iskenderun ein, besetzte die Region mit eigenen "Einwohnern" und führte dann ein Referendum durch, welches das Gebiet als "Provinz Hatay" der Türkei einverleibte. Dieses Ereignis wird unter Nahostexperten "Iskenderun-Modell" genannt: Besetzen, niederlassen und dann ein Referendum durchführen.

Ähnlich verhielt es sich mit der Besetzung Nordzyperns. Erst marschierte die Türkei in Nordzypern ein, um die Zyperntürken, die von den Griechen aus dem südlichen Teil vertrieben wurden, zu schützen. Nachdem die griechische Putschregierung gestürzt worden war und eine demokratische Regierung die Regierungsgeschäfte übernahm, weigerte sich die Türkei, den Nordteil Zyperns wieder zu verlassen. Sie siedelte in großem Masse Festlandstürken an und vertrieb fast alle Griechen aus Nordzypern. Heute leben nur noch wenige zypriotische Griechen in Nordzypern.