Gewachsene Chancen für die Abwendung eines Militärschlags

Das russische Raketenabwehrsystem S-400 ist seit 2015 in Syrien stationiert. Bild: Sputnik/ Mihail Mokrushin

Nachdem der mancherorts bereits für die letzte Nacht erwartete Militärschlag gegen syrische Einrichtungen ausgeblieben ist, scheint es wieder Chancen für eine friedliche Beilegung des Konflikts zu geben

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Nach den unverhohlenen Drohungen Donald Trumps in Richtung Russland kündigte die Pressesprecherin des Weißen Hauses Sarah Sanders gestern Abend an, dass neben militärischen auch andere Optionen erwogen würden. Ebenfalls existiere noch kein Zeitplan für eine US-amerikanische Aktion gegen Syrien. In unerwartet scharfem Ton griff sie Russland an, dem sie eine direkte Verantwortung für die vermeintliche Giftgas-Attacke vorwarf.

Für ein mögliches Motiv wird der zunehmende Widerstand aus dem Kongress gehalten. Laut US-Verfassung verlangen militärische Aktionen eine Einwilligung des Kongresses, was seitens der Trump-Administration bislang nicht beabsichtigt war. Eine Ausnahme besteht allein für Aktionen im Kampf gegen den Terrorismus. Teile der Republikaner halten zudem kleinere Militäroperationen als nicht zustimmungspflichtig. Dass es beim Widerstand des Kongresses nicht allein um Imagepflege geht, offenbaren Stellungnahmen aus den Reihen der Demokraten. Anscheinend hält deren Mehrheit einen Militärschlag gegen Syrien ohne UN-Mandat und Akzeptanz durch den Kongress für rechtswidrig.

Im Gegensatz zu den erleichternden Statements aus Washington äußerte Theresa May entgegen gestrigen Verlautbarungen aus Großbritannien ihren Willen, an Militäraktionen gegen Syrien teilzunehmen. Dabei soll sie nach BBC-Quellen sogar bereit sein, ohne die vom Parlament verlangte Zustimmung zu handeln. Nach Jeremy Corbyns Warnung, Bombardements würden die Lage nur eskalieren, wäre es möglicherweise schwierig, einen Mehrheitsentscheid zu erreichen. Dass Mays Androhungen bereits Taten folgen, zeigen Meldungen über die Verlagerung britischer U-Boote ins östliche Mittelmeer.

Russische Appeasementpolitik in der Kritik

Gestern appellierte Wladimir Putin in einer Stellungnahme an den "gesunden Menschenverstand". Seine deeskalierenden Worte werden im Westen dahingehend interpretiert, dass Trumps Drohungen in seinem letzten Tweet Wirkung zeigen würden. Angesichts der martialischen Äußerungen während der letzten Tage werden Putins Worte in westlichen Medien allgemein mit Genugtuung quittiert.

Aus Russland werden dennoch anderslautende Positionen vernommen, die vor dem Hintergrund der Ereignisse der letzten Jahrzehnte durchaus verständlich wird. Ohne seine Regierung direkt zu kritisieren, charakterisiert der Präsident der Akademie für geopolitische Probleme Leonid Iwaschow die aktuelle Lage als ein Resultat russischer Appeasementpolitik: "Die USA haben begriffen, dass Russland das Feld räumt, und den, der das tut, soll man verfolgen und den Druck auf ihn erhöhen. Darum werden sie, solange wir ihnen weichen, ihre Anstrengungen verstärken. Unsere Nachgiebigkeit kann uns nur neue Angriffe einbringen."

Nach seiner Auffassung sollte Russland auch zu harten Gegenschlägen, etwa zu einer Versenkung US-amerikanischer Schiffe, bereit sein, falls diese Tomahawks auf syrische Städte abfeuern. Nur dadurch ließe sich ein großer Krieg verhindern, wie er 1962 während der Kuba-Krise drohte. "Hätten wir damals unsere Raketen nicht den Amerikanern unter die Nase geschoben, hätten sie die Möglichkeit eines Gegenschlags nicht gespürt. Unser Land wäre damals angegriffen worden. Die USA waren gerade dabei, die Stationierung ihrer Raketen in der Türkei abzuschließen, und hatten diese Absicht. Auch jetzt driftet die Situation in diese Richtung ab."

Was derartige Äußerungen gefährlich macht, ist der Tatbestand, dass sie ein gewisses Maß an Plausibilität für sich in Anspruch nehmen können. Bei der Kuba-Krise ging es noch um reine Machtpolitik. Zudem ließ die Frage, ob eine Stationierung von Atomwaffen auf Kuba oder in der Türkei eine unmittelbare Bedrohung darstelle, noch einen Interpretationsspielraum zu. Dagegen würde es sich bei einem militärischen Angriff auf Syrien durch die Westmächte unbestreitbar um einen Bruch internationalen Rechts handeln, sodass sich Russland in der Position wähnen könnte, dieses zu verteidigen.

Dass die russische Ansicht Unterstützung erfährt, beweist das Abstimmungsverhalten auf der Sitzung des UN-Sicherheitsrats am letzten Montag. Neben China unterstützten Bolivien, Äquatorialguinea, Äthiopien und Kasachstan die russische Resolution. Bei dem zweiten von Russland eingebrachten, abgeschwächten Text gab es zudem Enthaltungen durch die Elfenbeinküste, Kuwait, die Niederlande, Peru und Schweden. Für heute hat Bolivien eine weitere Sitzung des UN-Sicherheitsrats beantragt. Sie bietet möglicherweise die letzte Chance, eine militärische Konfrontation mit unberechenbaren Folgen abzuwenden.