Gefährliche Anti-Russland-Hysterie: Nowitschok und das Gift der Theresa May

Forensisches Zelt über der Parkbank, auf der die beiden Skripals gefunden wurden. Bild: Peter Curbishley/CC BY-2.5

Zwischenruf eines Richters

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Nur wenige Stunden nach dem Giftanschlag auf den russischen Doppelagenten Sergej Skripal beschuldigte die britische Regierungschefin Theresa May Russland als Urheber des Verbrechens. Ihr Außenminister Boris Johnson ging noch einen Schritt weiter und machte den russischen Präsidenten Putin persönlich verantwortlich. Es sei "äußert wahrscheinlich", dass dieser die Anwendung des Nervengifts angeordnet habe, sagte Johnson. Begleitend hierzu wies die britische Regierung 23 russische Diplomaten aus und drohte weitere Sanktionen an.

In blinder Bündnistreue unterstützten die USA, Frankreich, Deutschland sowie 21 weitere EU- und Nato-Staaten das britische Vorgehen und verwiesen in einer Gemeinschaftsaktion 140 russische Diplomaten des Landes. All das ist erfolgt, obwohl keine Belege für die Vorwürfe vorgelegt worden sind. Ein Großteil der deutschen Zeitungen und Rundfunk- und Fernsehanstalten versagten - wieder einmal - kläglich. Sie ergriffen Partei gegen Russland und vergaßen, dass sie zu Sorgfalt, Objektivität und Wahrhaftigkeit verpflichtet sind.

Das Geschehen erinnert fatal an die Vorverurteilungen Russlands beim Absturz der malaysischen Passagiermaschine MH17 im Juli 2014 in der Ostukraine (vgl. dazu Der Glaubwürdigkeitsgau). Nach dem Bericht einer internationalen Untersuchungskommission steht die Absturzursache fest. Die zentrale Frage, wer dafür die Verantwortung trägt, ist jedoch nach wie vor ungeklärt.

Konflikt mit Russland gewollt

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Konflikt mit Russland gewollt ist. Paul Schreyer schrieb in Telepolis: "Die Anti-Russland-Hysterie hat sich zu einer waschechten Paranoia ausgewachsen, gegen die zunehmend selbst absurdeste Verschwörungstheorien harmlos erscheinen .

Nunmehr veröffentlichte das Forschungszentrum Porton Down des britischen Verteidigungsministeriums seinen Untersuchungsbericht zum Giftanschlag von Salisbury. Danach hat das Militärlabor keine Beweise dafür gefunden, dass das beim Anschlag auf Sergej Skripal verwendete Nervengift in Russland hergestellt worden ist. "Wir konnten es als Nowitschok identifizieren", sagte der Leiter des Labors, Gary Aitkenhead. Zur Klärung der Herkunft des Nervengiftes wären noch weitere Informationen nötig, die jedoch nur der Regierung zugänglich seien. Theresa May hat diese Informationen nicht geliefert. Hat sie Angst vor dem Ergebnis?

Ergänzend zum Laborbericht schrieb der frühere britische Botschafter Craig Murray: "Es ist schlicht eine Tatsache, dass Russland nicht das einzige Land ist, das das Nervengift hergestellt haben könnte: Dutzende wären dazu in der Lage. Es könnte auch von vielen nichtstaatlichen Akteuren gefertigt worden sein. … Boris Johnson hat gelogen, was die sichere Herkunft des Nervengiftes angeht, ...".

Der ehemalige EU-Kommissar Günther Verheugen sagte in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen vom 27. März 2018: "Die Argumentation im Fall Skripal erinnert mich ein bisschen an eine Urteilsverkündung nach dem Motto: Die Tat war dem Beschuldigten zwar nicht nachzuweisen, aber es war ihm zuzutrauen."

In dubio pro reo

Großbritannien und seine willfährigen Unterstützer müssen sich fragen lassen, ob ihre Vorgehensweise mit den rechtsstaatlichen Prinzipien, auf die sie sich immer berufen, vereinbar ist. In Rechtsstaaten gilt nämlich das Prinzip der Unschuldsvermutung (in dubio pro reo). Ein Beschuldigter muss nicht beweisen, dass er unschuldig ist (was aus logischen Gründen auch gar nicht möglich ist). Vielmehr haben die Ankläger die Beweislast. Beweise für die behauptete Täterschaft Russlands bzw. Putins haben May, Johnson & Co. bis heute nicht vorgelegt. Haben sie die Welt getäuscht?

Auf den Giftanschlag Skripal angewendet bedeutet Unschuldsvermutung: Selbst wenn man - dem Laborbericht folgend - davon ausgeht, dass beim Mordversuch Nowitschok verwendet und dass dieses Gift in den 70er Jahren in der ehemaligen Sowjetunion entwickelt wurde, ist man juristisch nicht viel weiter. Denn es steht weder fest, dass Russland das Gift im Jahre 2018 noch hatte, noch ist bekannt, wieviele andere Staaten und Organisationen gleichfalls über Nowitschok verfügen.

Und selbst, wenn man wüsste, dass das in Salisbury eingesetzte Gift seinen Ursprung in Russland hatte, würde das nicht bedeuten, dass der Giftanschlag dem Staat Russland bzw. seinem Präsidenten anzulasten ist. Das wäre selbst dann noch nicht möglich, wenn ein russischer Staatsbürger als Täter überführt werden könnte. Denn der Präsident ist naturgemäß nicht für alle Straftaten seiner Landsleute persönlich verantwortlich.

Für die Verfolgung des Verbrechens wären wie in allen Kriminalfällen Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte zuständig. Erst dann, wenn die Ermittlungen ergäben, dass der Verbrecher im Auftrag Russlands oder gar des russischen Präsidenten gehandelt hat, läge eine Straftat mit internationalen Auswirkungen vor. Frühestens beim Nachweis einer solchen politischen Verwicklung wären Premierministerin und Außenminister am Zuge und Beschuldigungen und Sanktionen gegen Russland vertretbar.