Der Neoliberalismus und seine neoliberalen Subjekte

Zur Kritik des bipolaren Denkens (Auszug)

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Der Kapitalismus, so wusste schon Max Weber, formt sich historisch - in, so muss man ergänzen, einem sozial umkämpften und durchaus widersprüchlichen Prozess - immer wieder neu die Subjekte, derer er zur Fortsetzung seiner Bewegung bedarf. Auf die jüngere kapitalistische Geschichte bezogen heißt dies: Ohne neoliberale Subjekte kein neoliberales System.

Und in der Tat waren die vergangenen vier Jahrzehnte neben vielem anderen eben auch durch die Formung einer neuen gesellschaftlichen Subjektform gekennzeichnet, einer unterdessen hegemonial gewordenen neoliberalen Subjektivität. Diese schloss an jene Subjektformation an, die sich im "goldenen Zeitalter" der demokratisch-kapitalistischen Nachkriegsprosperität ausgebildet hatte und die man vielleicht am ehesten als Wachstums-, Wohlfahrts- und Aufstiegssubjektivität bezeichnen kann.

Gemeint ist damit die für breite bzw. zunehmend breitere Bevölkerungsschichten geltende, subjektiv wahrgenommene und in individuelle Handlungsorientierungen, Wertmaßstäbe und Alltagspraktiken inkorporierte Erwartung und Erwartbarkeit eines anhaltenden wirtschaftlichen Wachstums, expandierender wohlfahrts-politischer Staatstätigkeit und erleichterter sozialer Aufwärtsmobilität.

Mit Reagan, Thatcher und der neoliberalen Wende im nordatlantischen Raum wurden die Bürger/innen der westlichen Wohlfahrtsstaaten von der bisherigen Prosperitäts- auf eine neue Krisenkonstellation eingestimmt, ja mehr noch eingeschworen. Und die frühere "fordistische" Subjektformation wurde nach und nach von einer neuartigen Wettbewerbs-, Wohlstands- und Abwehrsubjektivität abgelöst. Oder vielleicht weniger abgelöst denn vielmehr überformt: Unter- bzw. hintergründig wirkten die mentalen und habituellen Prägungen der "guten alten", sozialdemokratisch geprägten Zeit noch nach, bestimmten sie die kollektiv-individuellen Gegenwartsdeutungen nach wie vor mit.

Politisch dominant und sozial wirkungsmächtig ist vor diesem Hintergrund jedoch eine gesellschaftliche Subjektivität geworden, die das spätestens in den 1990er Jahren ausgerufene Zeitalter des "Standortwettbewerbs" und der "Eigenverantwortung" in individuelle Handlungskalküle einpreist, sich strukturell vor allem um die Möglichkeiten der persönlichen wie gesellschaftlichen Wohlstandssicherung sorgt und eine prinzipielle Abwehrhaltung gegenüber vermeintlich unverdienten Kostgänger/innen wahlweise des Sozialstaats, der Steuerzahlergemeinschaft oder der eigenen Leistungsbereitschaft einnimmt.

Personalisierte und personifizierte Bösewichter

Als hegemonial hat sich damit in den spätindustriellen Ökonomien Europas und Nordamerikas - und zwar quer zur Struktur ungleicher materieller Lebenschancen - eine Subjektform erwiesen, der es dank permanenter ideologischer Indoktrination und einer politisch vorangetriebenen Verschärfung des Wettbewerbs in sämtlichen gesellschaftlichen Lebensbereichen zur sozialen Gewohnheit geworden ist, sich selbst der/die Nächste und der Ausgrenzung anderer nicht unbedingt abgeneigt zu sein.

Die gesellschaftspolitische Planstelle dieser "anderen" kann, je nach Situation und Kontext, personell ganz unterschiedlich besetzt sein: Mal sind es die Alten, die die zukünftigen Rentenansprüche der Jungen bedrohen (und nicht etwa die neoliberalen "Reformen" der Alterssicherung); ein andermal die Arbeitslosen, die offenbar nicht arbeiten wollen (und daher bitteschön sozialpolitisch zur Arbeitsaufnahme "angereizt" werden mögen); dann wiederum die Unterschichten, die sich falsch ernähren, ihren Kindern nichts vorlesen und auch noch - was sonst - dicke Kohle von allfälligen Ämtern einsacken (während bei den "hart arbeitenden" Mittelschichten steuerpolitisch kalt-progressiv abkassiert werde). Ab und an sind es auch die Reichen und Superreichen, die ins Kreuzfeuer der Kritik geraten - womit diese materiell garantiert die Richtigen trifft.

Ideologisch aber schließen auch die nach "oben" gerichteten Schuldprojektionen insofern an die zuvor genannten an, als dass es immer personalisierte ("das oberste Prozent", "die Finanzmanager", "Nieten in Nadelstreifen") oder gar personifizierte Bösewichter ("der Kaeser", "die Schaeffler", Gates, Zuckerberg & Co.) sind, auf die das Licht fällt, während die Strukturen, die derartig dubiose Gestalten immer wieder neu hervorbringen, im Dunkeln bleiben.

Immer, wirklich immer aber bieten sich als "andere" all die an, die irgendwie nicht von "hier" sind und nicht zu "uns" gehören: Zugewanderte und Geflüchtete, überhaupt alle Migrierenden bzw. "Nicht-Sesshaften", Ausländer/innen und ausländisch Anmutende, NichtStaatsbürger/innen und (wenigstens mal eine ehrliche juristische Kategorie) "Geduldete", alle Menschen anderer Hautfarbe "natürlich" sowieso. Wenn sonst nichts geht - die Präferenz für die Einheimischen, die Priorität für die Eingeborenen, der Nativismus des "Deutschland und die Deutschen zuerst" geht immer.

Dass der Neoliberalismus in seiner politischen Logik systematisch nicht nur individualistische Praktiken der Konkurrenz und Entsolidarisierung, sondern eben auch kollektivistische Praktiken des gruppenbezogenen Ressentiments und der kategorialen Ausgrenzung befördert, ist von der Linken analytisch wie strategisch vielleicht nicht hinreichend ernst genommen worden - zumindest in dem Sinne nicht, dass in einer neoliberalisierten Welt auch die politisch von der Linken vertretenen bzw. für sich in Anspruch genommenen Milieus nicht immun sind gegenüber neoliberalen Anrufungen und Anwandlungen. Warum sollten sie auch?

Insofern ist zwar in der Tat nicht jede Form von "Populismus" schon von vornherein kritisch zu sehen oder gar liberaldemokratisch zu verdammen. Wohl aber ist jeder Populismus, der zwar programmatisch gegen Konkurrenz und Entsolidarisierung antritt, zugleich aber praktisch Ressentiments befeuert und Ausgrenzung befördert, jedweder Populismus also, der selbst die ideologisch-soziale Spaltung der Gesellschaft in das Reagansche "Us" und "Them" reproduziert, aus linker Perspektive abzulehnen - auch wenn er sich selbst als ein Populismus "von links" begreifen oder gerieren mag.

Und so gesehen ist dann auch nicht, wie es in bestimmten Kreisen der Linken mittlerweile Konsens zu sein scheint, ein "progressiver Neoliberalismus" (Fraser 2017) das Problem, ein Neoliberalismus also, der - so heißt es - über eine Programmatik der Gleichstellung und der sogenannten "Identitätspolitik" gesellschaftlicher Minderheiten operiert. ("Minderheiten", zu denen in diesem Kontext interessanterweise u.a. auch Frauen gezählt werden - wohingegen die als legitim erachteten Interessen der männlichen Arbeiterschaft grundsätzlich nicht als bloß "identitätspolitische" Anliegen gelten, sondern immer als elementare Gerechtigkeitsfragen durchgehen; vgl. Dowling et al. 2017.) Problematisch ist vielmehr eine Politik der Ausgrenzung und des Ressentiments, ein regressiver Nativismus - ganz gleich, ob dieser nun im neoliberalen, im rechtsoder im linkspopulistischen Gewande daherkommt.

Die Nähe mancher linken Position zu den Nativisten

Insofern kann oder sollte es jedenfalls nicht darum gehen, das unter Linken außerordentlich beliebte Spiel zu betreiben, bei dem die jeweils Andersdenkenden als "Neoliberale" abgekanzelt und exkommuniziert werden (wie z.B., um gleich beim Nächstliegenden zu bleiben, im Falle der Würdigung meiner Person als "Verteidiger des neoliberalen Status quo" - und, der Vollständigkeit halber, gleich auch noch als "Antideutscher", wohl wegen meines Hinweises auf die historische Prägekraft des Nationalsozialismus für die klassenübergreifende Produktivitätskoalition der Bundesrepublik; vgl. Häring 2018).

Inhaltlich-analytisch wie politisch-strategisch scheint mir viel eher entscheidend zu sein, die äußerst problematische Nähe - wo gegeben - von erklärtermaßen linken Positionen und Positionierungen zu jenen von Vulgärnativisten wie Donald Trump und Elitärnativisten wie Angus Deaton aufzuweisen und zu kritisieren.

In diesem Zusammenhang lässt sich vielleicht auch gleich einmal klarstellen, dass ganz ausdrücklich und offensichtlich keine Nähe zum einzigartigen eliminatorischen Rassenhass des NS-Regimes unterstellt oder gar behauptet wird, wenn man eine politische Präferenz für die soziale Präferierung von "fellow citizens" als das bezeichnet, was sie ausdrücklich und offensichtlich ist: Ein politisches Plädoyer für die soziale Bevorzugung nationaler Mitbürger/innen, für eine nationale Begrenzung des Raums sozialer Berechtigung, sprich für eine national-soziale Politikoption. (Wenn dies nun neuerdings als "kommunitaristische" Option etikettiert wird, wie etwa bei Andreas Nölke [2018], so entbehrt eine solche Wendung angesichts der begründeten linken Kritik an der kommunitaristischen Sozialphilosophie der 1980er Jahre, die in ihren US-amerikanischen Varianten freilich über jede völkische Konnotation erhaben war, nicht einer gewissen Ironie - um nicht zu sagen Tragik.)

Um es ganz deutlich zu sagen: Selbstverständlich gibt es das subjektiv wie objektiv, ideell wie materiell legitime Interesse der Lohnabhängigen an Wohlstandssicherung oder auch nur an sozialer Positionsbewahrung. Und ebenso selbstverständlich ist die Forderung nach einer prioritären Umverteilung von "oben" nach "unten" sowie nach einer mindestens Teilenteignung der Vermögendsten unter den Besitzenden ein sine qua non jeder sich als links verstehenden gesellschaftspolitischen Programmatik. (Ich bitte alle Leser/innen guten Willens darum, die beiden letzten Sätze an dieser Stelle nochmals zu lesen. Danke.)

Aber ebenso überzeugt und unmissverständlich muss jede linke gesellschaftspolitische Programmatik doch darauf verweisen, dass alle Lohnabhängigen und Besitzlosen, gleich welchen Geschlechts oder welchen "identitätspolitischen" Selbstverständnisses auch immer, gleichermaßen legitime Interessen an sozialer Teilhabe anzumelden haben - und dass die legitimen Ansprüche der einen daher nicht gegen die ebenso legitimen Ansprüche der anderen auszuspielen sind.

Zugleich ist genauso unabdingbar die Überzeugung, oder müsste es meines Erachtens für eine gesellschaftspolitische Programmatik der Linken sein, dass sich mit dem Verweis auf die soziale Bringschuld der Reichen und Besitzenden die Frage einer radikalen gesellschaftlichen Transformation keineswegs schon erledigt hat. Es gibt freilich eine überaus problematische Tendenz unter Linken, die politische und soziale Verantwortung für eine solche Transformation zu externalisieren. Idealtypisch drückt sich diese Tendenz in der Suggestion aus, dass mit einer gerechteren oder wenn alles gut ginge sogar ansatzweise egalitären Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums in den "hochentwickelten" Nationen des Westens bzw. globalen Nordens der linken Sache genüge getan wäre. Typischerweise wird dann nicht nur das Soziale letztlich nationalgesellschaftlich gedacht. Sondern auch die politische Ökologie der Transformation reicht aus einer solchen Perspektive nur bis an die eigenen, nationalen Grenzen.

Unterschwellig, nicht selten aber auch ganz ausdrücklich, geht man von einer weiteren und weitergehenden stofflichen Verfügbarkeit der Welt aus - sei es, dass deren Begrenzungen schlicht nicht interessieren, oder dass man auf die rettende Macht der "Energiewende" und aller möglichen großtechnologischen Innovationen setzt, die eine wundersame Entkopplung von materiellem Wachstum und stofflichem Ressourcenverbrauch schon richten werden. Als könnte man in den "hochproduktiven" Ökonomien des Westens bzw. globalen Nordens ressourcenpolitisch irgendwie so weiter machen wie bisher, wenn in ihnen nur die binnengesellschaftliche Verteilungsfrage gelöst wäre (diesen Eindruck erweckt selbst noch der ansonsten aller Ehren werte innerlinke Vermittlungsversuch von Reitz 2018).

Einstweilen gibt es auf der Linken allzu oft keine hinlängliche Kenntnis und vor allen Dingen keine ernsthafte Anerkennung der Tatsache, dass sich die in der westlichen Welt politisch eingerichteten und sozial eingeübten, über alle Maßen energie- und emissionsintensiven Produktions- und Konsumweisen in Zukunft weder aufrechterhalten lassen werden noch gar global verallgemeinerungsfähig sind.

Nur ist es eben so: Die Möglichkeit, auf dem hierzulande herrschenden gesamtgesellschaftlichen Ressourcenverbrauchsniveau zu leben, beruht auf der Unmöglichkeit, dass alle Menschen auf dieser Welt heute in gleicher Weise leben können oder irgendwann dereinst leben könnten (vgl. Lessenich 2017c). Die Lebensweise der industriekapitalistischen Gesellschaften ist, im Welt- und Erdmaßstab gesehen, sozial wie ökologisch in höchstem Maße ausbeuterisch - und doch ist nicht zu erkennen, dass sie von der Linken in diesen Gesellschaften mehrheitlich wirklich fundamental in Frage gestellt würde (vgl. Brandt/Wissen 2017; Eversberg 2017).

<FR>Auszug aus isw-spezial 31 Stephan Lessenich: "Die Welt gemäß der Linken...? Zur Kritik des bipolaren Denkens", April 2018.

Stephan Lessenich, Soziologieprofessor an der Münchner Universität, verficht hier die These, dass die sozialistische Agenda universalistisch gedacht werden muss, sowohl sozial wie ökologisch. Das Ausspielen "unserer Armen" gegen die "Armen außen", die Verteidigung eines "nationalen Sozialstaates" gegen Migranten und andere Ansprüche von außen, sieht er auch bei Teilen der Linken, und er klassifiziert dies als ideologische Nähe zu Trump und anderen rechtspopulistischen, nativistischen Strömungen.

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