Türkei: Erdogan wird gewinnen

Erdoğan im Präsidentenpalast (2014); Bild: defenseimagery.mil./USA. Gemeinfrei

Weniger als zwei Monate bleiben der Opposition, um eine Wende herbeizuführen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es ihr gelingt, ist verschwindend gering. Ein Kommentar

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Erdogan wird die Wahl gewinnen. Die Chancen der Opposition, in letzter Sekunde die viel beschworene demokratische Wende herbeizuführen, sind verschwindend gering. Dass die Parteien abseits der AKP nun aus schierer Verzweiflung versuchen, eine gewisse fragile Einigkeit herzustellen, kommt Jahre zu spät. Es wird nicht mehr helfen.

Verpasste Gelegenheiten

Dabei hätte es so viele Gelegenheiten gegeben. Den Gezi-Aufstand im Sommer 2013. Den darauf folgenden Korruptionsskandal. Die Soma-Katastrophe. Die AKP-Wahlschlappe im Sommer 2015. Die Nachwehen des Putschversuchs vor fast zwei Jahren, wo die CHP sich, wie schon so oft, vor Erdogans Karren spannen ließ und ihr Totalversagen, als es darum ging, sich gegen den Krieg der Türkei in Syrien zu stellen. Und das sind nur die offensichtlichsten Wegmarken.

Das größte Kapital Erdogans

Die Schwäche der Opposition ist Erdogans Kapital. Und es ist ein viel größeres Kapital als seine vermeintlichen Leistungen in Bezug auf die Wirtschaft, die längst der Vergangenheit angehören. Von denen er aber noch immer zehrt. Erdogans Stärke ist auch nicht sein verschwurbelter, comichafter Neo-Osmanismus, bei dem man jedem, der ihn bejubelt, ein Geschichtsbuch in die Hand drücken möchte.

Der übersteigerte Nationalismus und mit ihm einhergehend der ungezügelte Kurdenhass weiter Teile der türkischen Bevölkerung ist nur einer von vielen Aspekte, die im Osmanischen Reich undenkbar gewesen wären. So traurig das ist: Viele der Sultane, in deren Tradition Erdogan sich stellen möchte, waren weit besonnenere Staatslenker als der derzeitige Präsident.

Dennoch funktioniert sein postfaktisches Narrativ in einem Staat, in dem Bildung oft misstrauisch beäugt wird. Wer soll auch noch für Ausgewogenheit, Besonnenheit und Fakten zuständig sein, wo doch Journalisten, Schriftsteller, Akademiker zu Tausenden ins Gefängnis geworfen oder ins Exil gedrängt werden?

Kein Gegenentwurf

Wie konnte es so weit kommen? Diese Frage wird oft gestellt. Dabei ist es relativ simpel: Weil sich auf politischer Ebene kaum jemand gefunden hat, der den Wählern einen Gegenentwurf zu Erdogan präsentieren konnte.

Weil diejenigen, die über Jahre immer wieder auf die Straßen gegangen sind, um ihre Stimmen zu erheben, zu wenig Unterstützung erhalten haben. Weil es, als eine knappe Mehrheit der Wähler begriff, dass etwas gewaltig schiefläuft, bereits zu spät war.

Die EU und Deutschland haben nicht angemessen reagiert

Erdogan hat, wie nahezu alle Despoten, nie einen großen Hehl aus seinen langfristigen Plänen gemacht. Trotzdem hatte er Erfolg. Weil auch das Ausland, die EU, Deutschland nicht angemessen reagiert haben. Weil der Bundesregierung der faule Flüchtlingsdeal und die Wirtschaftsbeziehungen wichtiger waren als die Unterstützung oppositioneller Kräfte.

Weil den deutschen Unternehmen, die in der Türkei gute Geschäfte machen, offenbar die Rendite wichtiger ist als stabile demokratische Verhältnisse - eine Rückgratlosigkeit, die vielen von ihnen sehr bald auf die Füße fallen könnte.

Wäre es besser mit einer Koalition aus CHP und Iyi Parti?

Dass Ex-Präsident Abdullah Gül den Ambitionen der Opposition, ihn als Kandidaten aufzustellen, nun eine Absage erteilt hat, war vorhersehbar, auch wenn seine Gründe vorgeschoben scheinen. Dabei ist sein Argument, dass es innerhalb der Oppositionsparteien an Konsens fehlt, natürlich nicht von der Hand zu weisen.

Es wirft ein Schlaglicht auf die Frage: Würde es wirklich besser, wenn nach dem 24. Juni eine Koalition aus CHP und Iyi Parti das Ruder in Ankara übernehmen würde? Beide Parteien unterstützen den Syrien-Feldzug und die Unterdrückung der Kurden. Beide Parteien unterstützen die Säuberungsaktionen und Massenverhaftungen von Oppositionellen zumindest dort, wo es auch die eigenen Gegner trifft.

Für einen demokratischen, pluralistischen Rechtsstaat steht keine der Parteien und keine ihrer Führungsfiguren. Meral Aksener ist eine rechte Hardlinerin, CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu ein blasser Bürokrat ohne Vision. Die rechtsradikale MHP hat sich durch ihren Schulterschluss mit der AKP selbst zerlegt, die Koalition mit Erdogan ist für sie keine Option mehr, sondern die einzige Möglichkeit, den eigenen Untergang abzuwenden, vorerst.