Leben in Horden und Schwärmen und andere Ungerechtigkeiten

Bild: JohannesW/Pixabay/public domain

Eine Anmerkung zu Gemeinschafts- und Gerechtigkeitsillusionen

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Viele Menschen haben ein Faible für "Gemeinschaft" oder moderner ausgedrückt: für das eigene Milieu und die Gruppen, zu denen man gehört. Dahinter ist die angenehme Vorstellung, zusammen mit anderen Menschen friedlich und solidarisch zu leben, miteinander gut umzugehen, freundschaftlich zu sein und den Stallgeruch sozialer Kohäsion in der Nase zu haben.

Gelernt wird das bereits in der Schule: Nur durch das Soziale, durch Kooperation ist der Mensch dieses außergewöhnliche und naturbeherrschende Tier geworden, das Fernsehen, Computer und Smartphones erfunden hat, zum Mond fliegt und bald zum Mars oder in andere fremde Welten reisen wird. "Soziales" heißt aber nicht nur ein Miteinander, sondern ebenso ein Gegeneinander, was gern unter den Tisch fällt.

Heute hat der Begriff Gemeinschaft, ähnlich wie Heimat, allerdings oft einen reaktionären Beigeschmack. Dazu kommt, die meisten Leute kennen aus praktischer Erfahrung die bittere Seite von Gruppen: Sie machen mitunter gehörigen Druck, man tut sich oft schwer hinein zu kommen und man kann ziemlich schnell wieder draußen sein.

Brutale Horden-Tiere

Von der grauen Urzeit bis heute ist es so: Die erste Gemeinschaft, der man zwangsläufig angehört, ist die eigene Familie, wobei das früher nicht die kleine Kernfamilie war, sondern eine Horde, die sich bei Bedarf Nahrung oder Frauen von anderen Horden raubte und Widersacher schnurstracks totschlug. Erst mit der sogenannten neolithischen Revolution (vor rund 10.000 Jahren), dem langsamen Sesshaftwerden und dem entdeckten Ackerbau entwickelten sich großfamilienartige, tribale, ortsgebundene Lebensformen. Wobei übrigens die Kernfamilie gar keine junge und moderne Entwicklung ist, sie war schon im ausgehenden Mittelalter die dominante Lebensart in Mittel-, West- und Nordeuropa (so man dazu historische Belege hat).

Diese Horden und Familien werden nicht so besonders angenehm für die lieben Kleinen gewesen sein, Stichwort: Alphatier-Herrschaft, später schweres Patriarchat, körperliche Strafen bis zum Tod, Ödipuskomplex, Mithelfen, Arbeiten, wo immer das nötig war. Kindheit war keine eigene Lebensphase, sondern man wurde als kleiner Erwachsener (Philippe Ariès) behandelt, ordentlich drangsaliert und mit Strafen zur Gefügigkeit gezwungen. So etwas wie Individualität war unbekannt.

Neue Wohlfühlkindheit

Diese Normalität hat sich in Europa mit Aufklärung, Romantik und Biedermeier geändert. Heute ist die wohlfühlverwöhnende, kindorientierte Mittelschichtfamilie nach US-amerikanischem Nachkriegsverständnis (das rasch in Europa importiert wurde) der Normalfall. Kinder erscheinen da - übrigens in völliger Verkennung psychologischer Sachverhalte - als prinzipiell gute, noch unbeschriebene Wesen, die abgetrennt von der Welt der Erwachsenen besonders sorgfältig zu "behandeln" wären und damit das pädagogische Objekt von Kultur und Gesellschaft geworden sind.

Diese Kindorientierung bedeutet aber nicht, dass man sich als Eltern nun persönlich darum kümmern muss, man kann sie auch in Kita-Anstalten abschieben, sofern sie pädagogisch gut (privat?) sind. Diese verhätschelnde Sonderstellung (mit Ausnahme mancher verwüsteter Unterschichtmilieus) hat in der Folge zu einem immer problematischeren Narzissmus geführt. Christopher Lasch hat davor bereits in den späten 1970er Jahren intensiv gewarnt und Sigmund Freud schon vor 90 Jahren die beiden "pathogenen Erziehungsmethoden, der Überstrenge und die Verwöhnung" (Das Unbehagen in der Kultur) sehr kritisch gesehen.