Amri-Ausschuss: Spuren führen zur Generalstaatsanwaltschaft Berlin

Der mutmaßliche spätere Attentäter vom Breitscheidplatz war fest im Fokus der Ermittler. Dem Abgeordnetenhaus fehlen immer noch Akten

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Der Tunesier Anis Amri, der am 19. Dezember 2016 einen Sattelschlepper auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin gesteuert und zwölf Menschen getötet haben soll, war nicht etwa ein terroristischer "Schläfer", der unauffällig im Verborgenen seine Tat vorbereitete. Er war das Gegenteil: Ein auffälliger Straßenkrimineller, der in Berlin nachhaltig im Blick der Polizei war. Und zwar derart nachhaltig, dass sich auch die Generalstaatsanwaltschaft, sprich: die oberste Ebene der Strafverfolgungsbehörden, mit ihm befasste. Das Seltsame: Danach brach die Beschäftigung der Behörden mit dem "Gefährder" unerfindlicherweise ab.

Im Amri-Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses von Berlin schilderte ein Sachbearbeiter des Landeskriminalamtes (LKA) Berlin, Abteilung Staatsschutz, der zusammen mit zwei Kollegen für den "Vorgang Amri" zuständig war, die Erkenntnisse in der Behörde. Eine Messerstecherei zwischen mehreren Drogendealern, an der Amri beteiligt war, rückt immer mehr in den Fokus - vor allem weil sie zu keinen Konsequenzen führte.

Am 11. Juli 2016 kam es in einer Sisha-Bar in Neukölln, wo Drogen verkauft wurden, zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen mehreren Männern tunesischer Herkunft. Wieviel Personen genau verwickelt waren, ist bereits die erste Unklarheit. Auf Seite der Angegriffenen sollen es drei gewesen sein, auf Seite der Angreifer, zu denen Amri gehörte, drei oder vier. Bei zweien handelte es sich um Mohammed Ali D. und Mohamad K. "Von einer weiteren noch nicht identifizierten Person" sprach die Generalstaatsanwaltschaft Berlin in einer Pressemitteilung vom März 2017. Als im Juni 2017 vor dem Amtsgericht Tiergarten der Prozess gegen Mohammed Ali D. begann, war nur noch von insgesamt drei Tätern die Rede.

Bei der Schlägerei zog einer der Angreifer ein Messer und verletzte einen der Angegriffenen lebensgefährlich. "Die Person wäre fast gestorben", berichtete der LKA-Beamte, der "Zeuge K", von dem lediglich die Initiale seines Nachnamens bekannt gegeben wurde. Der Verletzte musste 20 Tage im Krankenhaus liegen. Eine meldepflichtige Verletzung, die bei der Polizei Ermittlungen auslöste. Bei der Tat handelte es mindestens um eine "gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung", wenn nicht sogar um ein "versuchtes Tötungsdelikt". Jedenfalls hätte sie zwingend Haftbefehle nach sich ziehen müssen.

Bei seinen Ermittlungen konnte der Kripo-Mann K. die Namen der Tatbeteiligten identifizieren, darunter den von Anis Amri. Weil der zum damaligen Zeitpunkt beim LKA nicht nur als "islamistischer Gefährder" beobachtet wurde, sondern auch als gewerbs- und bandenmäßiger Rauschgifthändler bekannt war, kam es zu einer Besprechung auf höchster Ermittlungsebene - zusammen mit der Generalstaatsanwaltschaft von Berlin. Die fand am 18. August 2016 statt, beteiligt waren laut dem "Zeugen K" außer ihm, getreu der Sprachregelung des Parlamentes, sein Vorgesetzter "Herr L.", seine Kollegen "Frau W.", "Herr P." und der Kommissariatsleiter "Herr C." sowie auf Seiten der Generalstaatsanwaltschaft "Herr F." Bei "F." handelt es sich um den Leitenden Oberstaatsanwalt Dirk Feuerberg, den Behörden-Vize.

"Herr L." ist einer der zwei LKA-Verantwortlichen, die im Falle Amri nachweislich Akten manipuliert hatten. Vor einem Jahr, im Mai 2017, wurden gegen sie Strafverfahren wegen Strafvereitelung im Amt und Urkundenfälschung eröffnet.

Akrobatische Begründung

Ein Jahr später, im April 2018, stellte die Generalstaatsanwaltschaft von Berlin das Verfahren folgenlos ein. Mit einer unglaublichen akrobatischen Begründung: Die Aktenmanipulationen wurden zwar offiziell attestiert, eine Verschleierungsabsicht habe aber nicht mit "erforderlicher Sicherheit" nachgewiesen werden können. Eine "vollendete Strafvereitelung im Amt zugunsten des Amri" komme nicht in Betracht, weil Amri "zu diesem Zeitpunkt bereits tot war". Die Aktenfälschungen wurden im Januar 2017 nach dem Anschlag vorgenommen, Amris Drogendelikte wurden abgeschwächt, seine Komplizen verschleiert.

Mit der Straflosigkeit für die zwei Polizisten schützt die Staatsanwaltschaft auch sich selbst. Die Einstellung des Verfahrens erfolgte wenige Wochen nach dem Amtsantritt der neuen Generalstaatsanwältin Margarete Koppers. Die war bis dahin stellvertretende Polizeipräsidentin und somit Chefin der zwei beschuldigten LKLA-Beamten.

Aber auch aus der Besprechung vom 18. August 2016 im Falle Amri unter Federführung der Generalstaatsanwaltschaft folgte - nichts. (Auch dazu kann man in der Pressemitteilung der Behörde vom 11. April 2018 lesen.) Operative Maßnahmen wegen der Messerstecherei wurden nicht beschlossen, so der LKA-Zeuge K. Stattdessen sollte lediglich ein Verfahren wegen Amris Drogengeschäften eingeleitet werden, das dann nicht mehr vom Staatsschutz, sondern von einem Rauschgiftkommissariat geführt werden sollte. Aber auch das unterblieb.

Der Beamte erwähnte dann eine Videoaufzeichnung von dem Geschehen in der Sisha-Bar. Darauf sei eine Person mit Messer zu sehen, das Video sei aber von schlechter Qualität, man könne nicht erkennen, wer wer sei. "Herr F.", der Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft, habe die Auffassung vertreten, ein Haftbefehl für Amri sei deshalb "schwierig zu erlangen". Die Behörde versuchte es nicht einmal.

Bemerkenswert, wenn sich nun in der Einstellungserklärung der Generalstaatsanwaltschaft vom April 2018 ein Satz findet, der sich wie eine nachgeschobene Rechtfertigung liest: "Selbst wenn es zum Erlass eines richterlichen Haftbefehls gekommen wäre, kann nicht mit erforderlicher Sicherheit festgestellt werden, dass Amri bis zum Anschlag am 19. Dezember 2016 tatsächlich festgenommen worden wäre."

Damals, im Sommer 2016, hatte die Polizei den mutmaßlichen späteren Attentäter aber fest auf dem Schirm. Bis Ende September 2016 wurde sein Telefon überwacht. Am 21. September liefen dann alle Überwachungsmaßnahmen aus - und auch im Zusammenhang damit spielte die oberste Staatsanwaltschaft eine dubiose Rolle.

Die Überwachungsmaßnahmen hätten im September 2016 "beendet werden müssen", weil "keine Grundlage für eine weitere Verlängerung" bestanden hätte, behauptete die Behörde in einer Presseerklärung vom 21. Dezember 2016, zwei Tage nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz. Eine glatte Desinformation, denn die Staatsschützer des LKA, die mit dem Gefährder Amri befasst waren, hatten wiederholt Gerichtsbeschlüsse für Observationen der Zielperson erwirkt - und zwar bis zum 21. Oktober 2016. Dass diese Observationen dann nicht durchgeführt wurden, ist eine der zahlreichen Ungereimtheiten.

"Man hat nicht weitergemacht - warum?"

Die Messerstecherei und ihre Folgenlosigkeit beginnt sich als eines der Schlüsselereignisse des Komplexes Amri herauszukristallisieren. Es sei das "strafrechtlich erheblichste Delikt" gewesen, um Amri aus dem Verkehr zu ziehen, meinte der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses Burkard Dregger (CDU) hinterher in der Presserunde. Der Abgeordnete Frank Zimmermann (SPD) verstand nicht, warum die Staatsanwaltschaft das Delikt Körperverletzung nicht mit den Drogen-Delikten Amris zusammengeführt hat. Und der Abgeordnete Stephan Lenz (CDU) beispielsweise konstatierte: "Da ist so ein gewisser Bruch, den ich mir noch nicht erklären kann. Man hat nicht weitergemacht - warum?"

Das Video von dem Streit in der Sisha-Bar konnte der Ausschuss bisher nicht in Augenschein nehmen. Es soll inzwischen aber von der Justizverwaltung geliefert worden sein, so Dregger. Er selber will es an anderer Stelle bereits gesehen haben, tatsächlich könne man wenig erkennen, allerdings sei der Film auch nur ein paar Sekunden lang.

Mit diesem Video, von dem bisher nicht bekannt war, dass es existiert, setzen sich die Fragezeichen fort. Denn obwohl man wenig erkennen könne, soll es den Ermittlern gelungen sein, den Täter zu identifizieren: Mohamad K., der derzeit noch im Gefängnis sitzt, möglicherweise aber abgeschoben werden soll. Er wurde bisher vom Ausschuss nicht vernommen. Im Gegensatz zum dritten Mittäter Mohammed Ali D., der ebenfalls eine Haftstrafe absitzt und den der Ausschuss im März in Räumen der JVA Moabit befragte. Dabei machte der die aufsehenerregende Aussage, nicht Mohamad K. sei der Messerstecher gewesen, sondern Anis Amri. K. habe dem das Messer nur aus der Hand nehmen wollen.

Sollte Amri vom Vorwurf der direkten Täterschaft verschont worden sein?

Damit würde sich eine Parallele zum Umgang der Ermittler mit dessen kriminellen Drogengeschäften ergeben. Dass K. wiederum den Messerstich gestanden haben soll, passt allerdings nicht ganz zu dieser Hypothese.

Dennoch stellt sich die Frage, ob Amri geschützt wurde. Denn noch eine weitere Spur führt zur Generalstaatsanwaltschaft von Berlin. Einige Tage nach der Messerattacke, Ende Juli 2016, stieg Anis Amri in einen Fernbus, um Deutschland Richtung Italien zu verlassen. Laut dem Zeugen K. soll die Generalstaatsanwaltschaft erklärt haben, wenn der Beobachtete ins europäische Ausland reise, seien "weitere Maßnahmen nicht zwingend" erforderlich, im Klartext: Man soll ihn ziehen lassen.

Es kam anders. An der Grenze in Konstanz wurde Amri aus dem Bus geholt, weil er zwei gefälschte italienische Ausweise bei sich hatte. Woher die stammten, können die Ermittler bis heute nicht sagen. Amri kam in Baden-Württemberg in Abschiebehaft, wurde aber nach zwei Tagen entlassen und kehrte direkt nach Berlin zurück.

Auf die Journalistenfrage, ob der Ausschuss den verurteilten Messerstecher Mohamad K. noch als Zeugen hören wolle, legte sich der Vorsitzende nicht fest, das müsse erst intern erörtert werden. Das Gremium ist unter Zeitdruck. Generalstaatsanwältin Koppers informierte das Parlament über die baldige Abschiebung eines weiteren inhaftierten Zeugen, H.E., der Amri das Handy verkauft haben soll, das am Tatort gefunden wurde.

Der Abgeordnete Hakan Tas (Linke) kritisierte, dass "wichtige Aktenteile" durch die Generalstaatsanwaltschaft noch immer nicht geliefert worden seien. Die "Aktenlage" generell sei "nicht nachvollziehbar". Sie hätten keine Übersicht, welche Unterlagen bei wem lagerten. So sei es schwierig herauszufinden, wieviel Wissen über Amri in den Behörden tatsächlich vorhanden sei, warum welche Entscheidungen getroffen wurden, warum die Observation im Juni 2016 eingestellt wurde, oder warum ein einmaliger Besuch Amris in der Fussilet-Moschee im Februar 2016 ausgereicht haben soll, um dort eine Überwachungskamera zu installieren.

Tas zeigte sich zugleich nicht damit einverstanden, dass sämtliche Fragen im Zusammenhang mit der Fussilet-Moschee nur in nicht-öffentlicher Sitzung behandelt werden sollen. Die Einrichtung wurde gleich doppelt überwacht: von der Polizei und dem Verfassungsschutz.

Wie schon bei den NSU-Untersuchungsausschüssen zeichnen sich auch um die Amri-Ausschüsse Machtkämpfe mit den Sicherheitsbehörden ab. Die Vernehmung des zweiten Zeugen, dem LKA-Kommissariatsleiter "Herr C." und Vorgesetzten des Zeugen "K.", wurde kurzfristig abgesagt. Zu den Gründen wollten sich die Sprecher der Fraktionen an diesem Tag nicht äußern, auch nicht, ob sie Emails mit Anschuldigungen gegen den Beamten erhalten haben. Einig seien sie sich, hieß es nur, den Zeugen auf jeden Fall noch zu hören.

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