Sopranmeisen und lichtscheue Gespinstmotten

Amsel in Drohhaltung. Foto: Romate. Lizenz: Gemeinfrei.

Städte sind für Tiere Evolutionsbeschleuniger

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In den letzten Jahrzehnten starben zahlreiche Tier- und Pflanzenarten aus. Aber die Evolution lässt auch ständig neue Arten entstehen - besonders in Städten, die die Times deshalb unlängst mit den Galapagosinseln verglich. Mit deren Finken und ihren spezialisierten Schnäbeln entwickelte Charles Darwin seine Theorie der Entstehung der Arten (vgl. Evolution im offenen Raum).

In Städten gibt es nämlich nicht nur Haustiere, sondern auch zahlreiche freilebende Arten, die dort häufig auch eine größere Artenvielfalt an Pflanzen finden, wie tschechische Wissenschaftler in Pilsen herausfanden: Dort nahm die Zahl der verschiedenen Pflanzenarten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts von 478 auf 773 zu, während sie in der ländlichen Umgebung der Stadt von 1.112 auf 745 abnahm.

Vom Hasen bis zum Kojoten

An Vögeln gibt es heute in Städten nicht nur Tauben, Spatzen, Schwalben, Raben und Falken (die sich auf einem Sendlinger Balkon eine halbe Stunde lang beim Mäuseverzehr zusehen lassen), sondern auch Stelzen, Zaunkönige, Goldfinken, Goldhähnchen, Braunellen, und sogar Sittiche, die von entflohenen Ziertieren abstammen. Bei den Säugetieren haben sich in Europa längst nicht mehr nur Mäuse und Ratten, sondern in großer Zahl Hasen, Kaninchen, Füchse und Wildschweine ausgebreitet - und in den USA sogar Kojoten (vgl. Eine Chance für den Osterhasen und Fuchsplage in Städten).

Viele Tiere siedelten sich erst im letzten Jahrhundert in Städten an. Die heute allgegenwärtigen Amseln etwa gibt es in London erst seit den 1920er Jahren. Sie unterscheiden sich von ihren Artgenossen auf dem Land inzwischen durch kürzere Schnäbel, Flügel und Telomere sowie durch längere Beine und Därme.

Dass sie außerdem höher singen, haben sie mit Stadtmeisenmännchen gemeinsam, die die Tonhöhe ihrer Gesänge nach oben anpassten, damit sie von weiblichen Artgenossen in der lauteren städtischen Umgebung besser gehört werden können. Auf dem Land bevorzugen Meisenweibchen dagegen Männchen mit tieferem Gesang, weshalb sich Stadt- und Landmeisen gerade auseinanderentwickeln. Ähnliche Effekte wurden bei Weidenlaubsänger und Grashüpfern beobachtet.

Anpassung

Auch bei anderen Tierarten, die sich in Städten ansiedelten, lassen sich inzwischen signifikante Unterschiede zwischen ihnen und ihren Vorfahren vom Land feststellen, wie der niederländische Biologe Menno Schilthuizen in seinem neuen Buch Darwin Comes to Town zeigt (vgl. Evolution in Hochgeschwindigkeit). Das liegt an den anderen Überlebensherausforderungen in Städten - zum Beispiel am künstlichen Licht, das Gespinstmotten anzieht. Gespinstmotten, die in Städten leben, entwickeln die Tendenz, nicht mehr so stark von diesem Licht angezogen zu werden. Nicht langsam, sondern verhältnismäßig schnell, wie Schweizer Wissenschaftler vor zwei Jahren nachwiesen, die ermittelten, dass solche Insekten, die in Basel leben, nur mehr halb so häufig in Lichter fliegen wie ihre Noch-Artgenossen vom Land.

Bei Ameisen aus Cleveland im US-Bundesstaat Ohio fand man heraus, dass sie die dort herrschenden höheren Temperaturen besser vertragen als Eichelameisen aus dem Umland. Und der Anteil von polychlorierten Biphenyle, der in Städtischen Gewässern ebenfalls höher ist, sorgte dafür, dass die Zahnkarpfen in amerikanischen Häfen praktisch unempfindlich gegen die Effekte dieser sonst für Fische schädlichen Chemikalie wurden.

Ursachen nicht immer klar

Manchmal ist unklar, inwieweit Verhaltensänderungen in Städten genetisch bedingt oder mitbedingt sind: Zum Beispiel im Fall der Stare, Blaumeisen und anderen Arten, die Zigarettenkippen in ihren Nestern verbauen. Was in empörten Meldungen erst als weiterer Beweis für die Schändlichkeit der menschlichen Nikotinsucht präsentiert wurde, bringt einen Überlebensvorteil, wie die Evolutionsbiologen Monserrat Suárez-Rodríguez, Isabel López-Rull und Constantino Macías Garcia von der Universidad Nacional Autónoma de México in Tlaxcala herausfanden: Die Zigarettenstummel halten nämlich Ektoparasiten fern, die auf der Haut von Vögeln und in ihren Federn leben (vgl. Helfen Raucher Vögeln?).

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