"Viele Sexarbeiterinnen arbeiten selbstbestimmt"

Grafik: TP

Undine de Rivière über Sexarbeit in Deutschland

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Dienstleister des horizontalen Gewerbes könnten als eine Art sexueller Pflegekräfte anerkannt werden, tatsächlich werden sie aber durch eine Reihe von staatlicher Schutzmaßnahmen entmündigt und gegängelt - so argumentiert Undine de Rivière in ihrem Buch "Mein Hurenmanifest". Telepolis sprach mit der Autorin. Teil 1 des Interviews.

Frau de Rivière, Sie argumentieren in Ihrem Buch gegen die Stigmatisierung der Prostitution, dass die normale Erwerbstätigkeit so frei gar nicht wäre und überwiegend Elemente einer Notlösung zur Sicherung der Existenz in sich berge. Ist also die freie Lohnarbeit eine Form der Prostitution? Wie würden sie den Unterschied von freier Lohnarbeit und Prostitution beschreiben?

Undine de Rivière: Ich persönlich finde in der Sexarbeit mehr Freiheit und kenne viele Sexarbeiterinnen, die gerade diese Freiheit, die Selbständigkeit und die Flexibilität in ihrem Beruf sehr schätzen. Andererseits kenne ich auch Menschen, die mit diesem Job nicht besonders glücklich sind, weil sie sich nicht selbst verwirklichen können. Wie andere Leute in anderen Berufen auch, die eben ihren Job machen - die Geld verdienen, um zu überleben.

Ich glaube, das ist leider, so wie unsere Gesellschaft strukturiert ist, derzeit der Normalzustand. Ich finde vor allem wichtig, dass man in der Sexarbeit keine anderen Maßstäbe ansetzt, als bei anderen Berufen. Dass ein Unterschied gemacht wird; zwischen Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung.

Oft werden nur die sogenannten glücklichen Huren von denjenigen abgegrenzt, die ausgebeutet oder gezwungen werden. Das große Mittelfeld von Sexarbeiterinnen, deren Arbeitszufriedenheit mit den konkreten Umständen zusammenhängt - also wie viel Geld verdient wird, ob man angenehme oder unangenehme Kunden hat, wie die kollegiale Zusammenarbeit ist, wie die Vermieter drauf sind - fällt völlig unter den Tisch. Ich würde mir wünschen, in einer Gesellschaft zu leben, in der niemand gezwungen ist, für Geld Dinge zu tun, die ihm gegen den Strich gehen. Das gilt für die Sexarbeit genauso wie für andere Berufe.

Kennen Sie zufälligerweise das Lied "We Are All Prostitutes" von der Pop Group?

Undine de Rivière: Nein, das kenne ich nicht.

Würden Sie dieser allgemeinen These zustimmen?

Undine de Rivière: Das hängt davon ab, was unter Prostitution verstanden wird: Ursprünglich bedeutet der Begriff "die Preisgegebene". Es geht also um jemanden, der zur Schau gestellt und vermietet wird. Bei der Leiharbeit könnte man schon sagen, dass das irgendwie hinkommt. Dagegen arbeiten viele Sexarbeiterinnen selbstbestimmt, sie werden nicht von jemandem vermietet und zur Schau gestellt. Sie sind selbst handelnde Subjekte. Insofern weiß ich nicht, ob uns der inflationäre Begriff der Prostitution hier so viel weiter bringt. Ich finde, wir sollten ihn durch "Sexarbeit" ersetzen.

Sie sind studierte Physikerin. Was sind die Vorteile und Nachteile von Ihrem Beruf verglichen mit den herkömmlichen Formen von Lohnarbeit?

Undine de Rivière: Ich schätze die Selbstständigkeit. Ich habe in meinem Leben noch nie angestellt gearbeitet und möchte das auch nicht. Allerdings könnte ich mir schon vorstellen, künstlerisch oder wissenschaftlich tätig zu sein. So bin ich froh, eine Tätigkeit auszuüben, bei der ich selbst entscheide, was ich mache, und bei der es mich freut, meine Gäste glücklich machen zu können.

Das ist etwas anderes, als mit einem 9 to 5-Job in einer Mühle gefangen zu sein, ein Drittel der Lebenszeit abzusitzen und darin keinen anderen Sinn zu sehen, als das Überleben abzusichern. Das finde ich ganz traurig. Ich fände es schöner, wenn die Leute sich in dem, was sie tun, selbst verwirklichen können. Das mag auch in der Lohnarbeit möglich sein - aber ich bin dafür nicht geeignet, genauso wenig, wie jeder für Sexarbeit geeignet ist.

Hat Sexarbeit für Sie etwas Künstlerisches?

Undine de Rivière: Es hat auf alle Fälle Elemente davon. Manchmal mache ich so etwas wie Improvisationstheater für einen Zuschauer, der gleichzeitig auch Mitspieler ist. Im kreativ-sexuellen Bereich geht es oft um Rollenspiele und Fetische, das hat viel mit Inszenierung zu tun. Und im Endeffekt sind alle Sexarbeiterinnen Künstlerinnen der Selbstinszenierung. Sexarbeit hat oft künstlerische und therapeutische Elemente, deshalb halte ich es nur für angemessen, dass Sexarbeit endlich als Freiberuf anerkannt wird, wie Künstler, Therapeut oder Journalist.

Was hat Sexarbeit mit Kapitalismus zu tun?

Undine de Rivière: Na ja, wir befinden uns innerhalb eines kapitalistischen Systems und es wird eine Dienstleistung gegen Geld getauscht.

Kann es nicht sein, dass die Menschen im Kapitalismus ein eigenes kommerzielles Feld der Sexualität brauchen, weil sie das im Alltag nicht mehr finden?

Undine de Rivière: Wie meinen Sie das?

"Eine Sache der Bequemlichkeit"

Die Menschen haben keine Zeit mehr, normale Beziehungen aufzubauen - oder die normalen Beziehungen sind so sehr mit Arbeit überlastet, dass sie sich sexuelle Inseln schaffen müssen …

Undine de Rivière: Klar. Es gibt Menschen, die die Sexarbeit privaten sexuellen Beziehungen vorziehen, weil sie unkompliziert ist und allen Beteiligten von vorn herein klar ist, wie der Deal läuft. Es gibt sogar Menschen, die einen Rotlicht-Fetisch haben, die den Umstand, dass das Ganze gegen Geld stattfindet, erotisierend finden, die also bevorzugt Sexarbeiterinnen aufsuchen.

Genauso gibt es Sexarbeiterinnen, die den Job gerne machen, weil er etwas gesellschaftlich Abseitiges, Verruchtes, Subversives hat, wobei ich niemanden kenne, der dieses Stigma nicht trotzdem lieber los wäre. Aber für beide Seiten gibt es so etwas wie den Reiz des Verbotenen.

Außerdem ist es auch eine Sache der Bequemlichkeit: Wenn jemand gerade Lust auf Sex hat, aber keinen Partner oder keine Partnerin vor Ort, kann man relativ unkompliziert seine Sexualität ausleben. Das geht zwar auch auf anderen Wegen, aber selten so einfach wie in der Sexarbeit.

Sie schreiben, dass der ungebremste Kapitalismus für Ihre Branche ein Problem darstellt. Inwiefern?

Undine de Rivière: Bei Sexdienstleisterinnen handelt es sich um eine Gruppe international hochmobiler Selbstständiger: Wir haben das Wohlstandsgefälle zwischen den Ländern, unterschiedliche kulturelle Einflüsse. Schon bei lokal arbeitenden Angestellten ist es schwer genug, einen Mindestlohn einzuführen - und bei uns ist es umso schwieriger, so etwas wie einen vernünftigen Marktpreis durchzusetzen. Manche Kolleginnen beschweren sich, dass es einen Preisverfall gibt, weil der Markt zu groß wird. Allerdings habe ich auch nicht das Gefühl, dass der Lebensstandard derzeit für die Bevölkerungsmehrheit steigt.

"Patriarchale Angst vor der ungezügelten weiblichen Sexualität"

Aus welchen Komponenten setzt sich das unvorteilhafte Bild der Sexarbeit zusammen?

Undine de Rivière: Früher wurde mit der Gesellschaftsschädigung durch Sexarbeiter argumentiert, weil die Ehe, die gesellschaftsstabilisierend wirkt, unterminiert wird. Das ist aus Sicht von Staat und Kirche, die die Sexualität der Menschen kontrollieren und sanktionieren, auch nachvollziehbar. Sexarbeiterinnen entziehen sich dieser Kontrolle und stiften angeblich auch ihre Kunden dazu an.

Heute ist diese Argumentation nicht mehr so einfach, weil Sexualität grundsätzlich nicht mehr so stark reguliert wird. Die Leute müssen nicht mehr heiraten, um miteinander Sex haben zu dürfen. Aber die Angst vor der ungezügelten Sexualität von Sexarbeitenden ist immer noch vorhanden.

Ich habe mir schon von radikalfeministischer Seite sagen lassen: Wieso soll sich mein Partner noch mit der Beziehung auseinandersetzen, wenn er einfach in den Puff gehen kann, wenn man nervt? Da steckt aber ein ganz schreckliches Beziehungsbild dahinter, denn wenn die Kontrolle über den Zugang zu einem weiblichen Körper das Einzige ist, was ich dem Partner zu bieten habe, dann hat das nichts mit einer Begegnung auf Augenhöhe zu tun.

Andererseits gibt es von patriarchaler Seite die Angst vor der ungezügelten weiblichen Sexualität. Das Kuppeleiprivileg von Staat und Kirche existiert außerdem in verminderter Form immer noch. Die Angst vor Kontrollverlust wird auf uns projiziert und auf unseren Rücken ausgetragen.

Es könnte aber auch sein, dass es einfach nicht sein kann, dass jemand zugibt, dass es Spaß macht, gegen Geld mit jemandem zu schlafen?

Undine de Rivière: Klar - aber die Frage ist doch, warum es nicht Spaß machen darf. Offensichtlich macht das Angst und ist nicht akzeptabel. Ich kann da auch nur spekulieren.

"Die Sexarbeiterin hat die Macht"

Wie würden Sie generell das Verhältnis zwischen Prostituierten und den Freiern beschreiben?

Undine de Rivière: Das ist ganz unterschiedlich. Die Leute, die zu uns kommen, sind der gesellschaftliche Durchschnitt. Den Freier unterscheidet also nichts von anderen Männern (oder Frauen), außer dass er eine sexuelle Dienstleistung in Anspruch nimmt. Es gibt Beziehungen zwischen Sexdienstleistenden und ihren Kunden, die allen Beteiligten gut tun - und es gibt dysfunktionale Beziehungen.

Es gibt Machtgefälle in die eine oder die andere Richtung: Es gibt Sexworker, die am Rande des Existenzminimums leben und sich von ihren Kunden ausbeuten lassen - und es gibt umgekehrt Freier, die sich von den Sexarbeiterinnen ausnehmen lassen wie Weihnachtsgänse.

In den Sparten der Sexarbeit, in denen es nicht um Stammkundschaft geht, kommt auch Betrug vor. Das lässt sich gar nicht über einen Kamm scheren. Im Endeffekt ist es so, dass in unserer Branche nach wie vor Vorkasse stattfindet - und wenn das Geld einmal bezahlt ist, hat die Sexarbeiterin die Macht: Denn sie kann jetzt nur Dienst nach Vorschrift oder nicht einmal Dienst nach Vorschrift machen. Die gelungenen Beziehungen sind die, bei denen am Ende beide Seiten zufrieden sind. Bei mir und vielen meiner Kolleginnen ist das der Normalfall.

Sie würden sagen, dass Sexarbeiterinnen Spaß bei ihrer Arbeit haben?

Undine de Rivière: Viele, aber sicherlich nicht alle. Es wäre natürlich völlig illusorisch, dass sich jede Sexarbeiterin bei jeder ihrer Dienstleistung selbst verwirklichen kann, aber ich habe das auf jeden Fall und ich kenne viele Kolleginnen, denen es ebenso geht.

In Teil 2 des Interviews äußert sich Undine de Rivière unter anderem über die Kondompflicht und Gang-Bang-Veranstaltungen

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.