"Die Analyse des Gifts sagt noch nichts über den Täter"

Jan van Aken über die OPCW, Skripal, Douma und Propaganda von allen Seiten

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Jan van Aken war war von 2009 bis 2017 Bundestagsabgeordneter der Linken und zwischen 2004 bis 2006 Biowaffeninspektor bei den Vereinten Nationen, über Skripal

Im Moment hört man gar nichts mehr vom angeblichen Giftgaseinsatz in Syrien oder vom Anschlag auf die Skripals in Großbritannien. Wie erklären Sie sich das?

Jan van Aken: Das muss man trennen: Bei Skripal war es ein Mordversuch. 99 Prozent der Aufklärung kommen da durch klassische Polizeiarbeit. Die Einbeziehung der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) ist auch wichtig und richtig, aber zur Überführung der Täter wird das überhaupt nicht führen. Die OPCW ist ja gefragt worden von der britischen Regierung, den fraglichen Stoff zu untersuchen. Und sie hat dann den Befund bestätigt: Ja, das Gift war Nowitschok. Mehr Mandat hat die OPCW auch gar nicht. Insofern ist es eher eine Frage polizeilicher Ermittlungsarbeit. Und da hört man in der Regel nie was, bis Anklage erhoben wird.

Weiß man denn inzwischen sicher, welches Gift eigentlich eingesetzt wurde? Zuerst hieß es Nowitschok, später kamen noch das Opioid Fentanyl oder auch Carfentanyl ins Gespräch. Die OPCW veröffentlichte den Namen des Giftes nicht.

Jan van Aken: Nein, aber die Engländer haben gesagt, es ist Nowitschok. Das ist eine Gruppe von Chemikalien. um was es sich genau handelt, ist offiziell nicht bekannt. Im Internet wird immer von einer Substanz geschrieben, die pulverförmig eingesetzt wird, aber das weiß ich nicht. Offiziell ist das nicht klar, aber es ist Nowitschok.

Tschechiens Präsident Milos Zeman hat zugegeben, dass sein Land auch mit dem Nervengift Nowitschok experimentiert hat. Ändert das etwas?

Jan van Aken: Nein, gar nicht! Auch die Bundeswehr hätte ihren Job nicht richtig gemacht, wenn sie nicht auch mal geringe Mengen von Nowitschok entweder selbst produziert oder sich besorgt hätte. Die müssen ja wissen, wogegen sie sich verteidigen müssen. Die Sowjetunion hatte Nowitschok als Offensivwaffe produziert. Und es ist völlig normal, dass die Staaten, die das können, sich damit befassen und überprüfen, ob ihre Schutzmasken und Gasanzüge dagegen wirksam sind. In kleinen Mengen ist Nowitschok also sicher in vielen Ländern vorhanden. Der Leiter des Labors Porton Down in England hat im Grunde indirekt zugegeben, dass sie das auch haben.

Also ist die Argumentation der russischen Regierung nicht sehr plausibel, dass das Gift nicht aus Russland stammen muss, sondern auch woanders herkommen kann?

Jan van Aken: Doch, das Gift kann auch woanders herkommen. Ich glaube, ein Mordversuch mit Nowitschok ist mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Geheimdienstaktion. Aber welcher Geheimdienst, darüber mag ich gar nicht spekulieren. Es ist genauso wahrscheinlich wie unwahrscheinlich, dass es Russland war oder Deutschland oder England oder die Ukraine. Man muss natürlich nach den Motiven schauen, aber auch das hilft im Moment nicht weiter: Es kann sein, dass Russland einen Verräter vor der großen Weltöffentlichkeit bestrafen wollte. Oder aber, dass irgendjemand Russland die Schuld in die Schuhe schieben wollte, um das Land zu isolieren.

Was das tschechische Labor im südmährischen Vyskov angeht: Ist es überhaupt denkbar, dass Gift aus einem NATO-Kompetenzzentrum zur Abwehr von ABC-Waffen, also atomaren, biologischen und chemischen Kampfstoffen, einfach so entwendet wird?

Jan van Aken: Vor fünfzehn Jahren hätte ich vielleicht noch Nein gesagt. Aber die Milzbrandbriefe in den USA kamen ja eindeutig aus einem amerikanischen Biowaffen-Labor. Da ist auch Material entwendet worden für einen terroristischen Anschlag in den USA. Also: Möglich ist vieles.

"Ich vertraue russischen Beteuerungen genau so wenig wie britischen"

Was ist eigentlich von den russischen Beteuerungen zu halten, man sei bereit, an einer ehrlichen Aufklärung mitzuwirken?

Jan van Aken: Hier ist von beiden Seiten wahnsinnig viel Propaganda im Spiel. Ich vertraue da russischen Beteuerungen genau so wenig wie britischen. Ein Beispiel nur: Der russische Außenminister Lawrow hat öffentlich verkündet, die OPCW habe in der untersuchten Probe den Kampfstoff BZ gefunden, was beweise, dass alle Anschuldigungen Unsinn seien. Das war eine bewusst lancierte Fehlinformation. Lawrow wusste genau, was hinter BZ steht, das ist alles öffentlich gemacht worden von der OPCW: BZ wurde nur als Vergleichssubstanz beigemischt. Das war eine derartige Desinformation von russischer Seite, dass ich ihnen in diesem Fall genau so wenig traue wie der britischen Regierung.

Warum der britischen Regierung auch nicht?

Jan van Aken: In dem Moment, als die Briten Nowitschok identifiziert hatten, hat Premierministerin May öffentlich verkündet, jeder weiß, wer Nowitschok entwickelt hat, jetzt ist es eingesetzt worden, also waren es die Russen. Und dann hat sie sofort Sanktionen erlassen. Das war totaler Schwachsinn, die Argumentation war von Anfang an dünn, das war ganz durchsichtig ein rein politisches Manöver. Theresa May war in der eigenen Partei angeschlagen und hat sich mit einem außenpolitischen Manöver gerettet. Außerdem hat sie ganz klar gelogen. Das Foreign Office hatte auf Twitter schrieben, unser Labor in Porton Down hat Beweise, dass das Gift russischer Herkunft ist. Und später hat der Laborleiter das klar dementiert.

Was kann in dieser Situation eine Organisation wie die OPCW bewirken?

Jan van Aken: Das ist kein Fall für die OPCW. Es war völlig richtig, dass sie auf Anfrage dort Proben analysiert haben, das gehört zu ihren Aufgaben. Und sie haben ihre Analysen den Engländern zur Verfügung gestellt und mit deren Erlaubnis Teile davon veröffentlicht. Aber die Analyse des Gifts sagt uns noch nichts über den Täter. Selbst wenn sich herausstellen würde, dass dieses gefährliche Gift tatsächlich aus einem russischen Labor stammt - was möglicherweise über den chemischen Fingerabdruck geht -, dann wissen wir immer noch nicht, wer der Täter war. Denn Nowitschok aus russischer Produktion ist beim Zerfall der Sowjetunion auch in andere ehemalige Sowjetstaaten gelangt. Aus Usbekistan zum Beispiel wissen wir das sicher. Insofern sagt selbst die Herkunft des Giftes nichts über den Täter, das können nur polizeiliche Ermittlungen klären.

Trotzdem haben jetzt London und Moskau einen internationalen Streitfall. Und damit ist die Frage, ob eine internationale Organisation wie die OPCW da nicht hilfreich sein könnte.

Jan van Aken: Sie hat erstmal nicht das Mandat dazu. Wenn sich jetzt Großbritannien und Russland nicht einig werden über die Analyse dieses Giftes und seiner Herkunft, dann gibt es laut Chemiewaffenkonvention die Möglichkeit, dass eine unabhängige Kommission das untersucht. Aber das haben bisher weder Russen noch Engländer beantragt. Und ohne Antrag passiert da nichts.

Was erwarten Sie, wie die Sache weitergeht?

Jan van Aken: Das wird so ähnlich ausgehen wie im Polonium-Fall oder bei anderen Mordfällen. Irgendwann kommt Scotland Yard mit Informationen und potenziellen Tätern und erhebt Anklage. Beim Polonium-Fall sind ja zwei Personen identifiziert worden, die sich offenbar auf russischem Staatsgebiet befinden. Sie werden aber nicht ausgeliefert, deswegen findet kein Prozess statt. Sie haben zwei mögliche Täter, aber ob diese es waren, kann nur ein Prozess zeigen. Und so ähnlich könnte es hier laufen. Am Ende muss ein ordentliches Gericht die Beweise würdigen und zu einem Urteil kommen.

Was in Großbritannien immerhin geht, anders als im Bürgerkriegsland Syrien. Was weiß man inzwischen über den angeblichen Giftgaseinsatz in Douma?

Jan van Aken: Die OPCW war vor Ort. Deren Untersuchung wurde leider von den Russen und der syrischen Regierung herausgezögert, was ich überhaupt nicht verstehe. Es gab keinen Grund dafür, das zu behindern. Am Ende waren sie aber zwei Tage vor Ort und haben Proben genommen. Die Ansage der OPCW ist, dass die Laboranalysen Ende Mai fertig sind und frühestens Anfang Juni mit einem öffentlichen Bericht zu rechnen ist.

"Das war Wilder Westen: Erst schießen, dann fragen"

Es gibt ja inzwischen massive Zweifel, ob es einen Giftgaseinsatz überhaupt gab. Aussagen von Augenzeugen legen jedenfalls nahe, dass islamistische Kämpfer das ganze inszeniert hatten. Wie sehen Sie das im Moment?

Jan van Aken: Es gab ja in den vergangenen Jahren viele solcher Berichte. In diesem Fall war ich anfangs sehr skeptisch. Mittlerweile muss ich sagen, dass es wohl doch ein Angriff mit irgendeinem Giftgas war. Aber das ist Spekulation, da warten wir am besten auf die OPCW-Berichte.

Wenn der Bericht kommt, wie sollte die Staatengemeinschaft damit umgehen?

Jan van Aken: Das Problem ist, dass die OPCW im Moment nur das Mandat hat herauszufinden, ob Giftgas eingesetzt wurde und welches. Und es braucht wieder ein Mandat, den Täter herauszufinden. Das gab es ja für zwei Jahre, den so genannten Joint Investigative Mechanism zwischen UNO und OPCW. Damals gab es das Mandat, den Täter zu ermitteln, und das geschah auch in mehreren Fällen. Mal war es der IS, mal das Assad-Regime.

Die Nachweise waren immer sehr überzeugend. So ein Mandat braucht es wieder. Am besten ein generelles, aber mindestens eins für diesen einen Fall. Das ist eine Frage der Diplomatie. Das deutsche Außenministerium sollte sich jetzt um ein Agreement zwischen Amerikanern und Russen bemühen, dass es ein Mandat gibt, um den Urheber des Anschlags zu ermitteln, falls er denn stattfand.

US-Präsident Trump hat ja als Reaktion auf den angeblichen Giftgasangriff einen Militärschlag angeordnet. Hat das die OPCW gestärkt oder geschwächt?

Jan van Aken: Das war ein totaler Angriff auf die OPCW. An dem Morgen, als die Experten in Damaskus ihre Arbeit aufnehmen wollten, begannen die Raketenangriffe. Völkerrechtswidrig war das sowieso, aber auch ein Angriff auf die Arbeit der OPCW. Nicht weil diese gefährdet war, sondern es war politisch ein Angriff. Das war Wilder Westen: Erst schießen, dann fragen.

Weil Donald Trump eben so ist?

Jan van Aken: Nicht nur Trump, auch vor ihm George W. Bush. Und auch Briten und Franzosen haben mit bombardiert. So ist einfach die weltpolitische Lage, immer häufiger gilt nur das Recht des Stärkeren. Und auch Briten und Franzosen fühlen sich weder an die OPCW noch ans Völkerrecht gebunden.

Was hat das langfristig für Folgen? Russland ist da teilweise auch nicht besser.

Jan van Aken: Russland ist genauso mitschuldig, als sie zum Beispiel die Arbeit der Chemiewaffen-Experten vor Ort behindert haben. Alle sind dabei, das Völkerrecht zu schwächen. Und je weniger die Regeln beachtet werden, desto mehr gilt das Recht des Stärkeren und die Kriegsgefahr steigt.

Aufkündigung des Atomabkommens durch die USA ist die größte Kriegsgefahr

Was sagen Sie als ehemaliger Rüstungskontrolleur eigentlich dazu, dass Trump das Atomabkommen mit Iran aufgekündigt hat?

Jan van Aken: Da sehe ich im Moment die größte Kriegsgefahr. Es kommt jetzt ganz stark darauf an, ob die Europäer überhaupt in der Lage sind, das Abkommen weiter aufrecht zu erhalten. Der Iran ist willig, Europäer, Russen und Chinesen auch. Wenn aber die amerikanischen Sanktionen so weit gehen, dass jede Firma, die mit dem Iran Handel treibt, mit amerikanischen Sanktionen belegt wird, dann haben Europäer, Russen und Chinesen gar keine Chance, das Abkommen aufrecht zu erhalten, weil alle europäischen Firmen abspringen. In dem Moment würde der Iran sofort mit der Urananreicherung beginnen und Israel würde den Iran bombardieren. Insofern hängt gerade alles davon ab, wie weit die amerikanischen Sanktionen gehen.

Also könnte jetzt passieren, was Trump nach eigener Aussage ja verhindern will: Dass der Iran nach Atomwaffen strebt.

Jan van Aken: Ja, bis zum Jahre 2003 hatte der Iran ein Atomwaffenprogramm. Das ist aber Ende 2003 eingestellt worden. Selbst Netanjahu hatte neulich im Grunde genommen bewiesen, dass der Iran 2003 damit aufgehört hat. Jetzt könnte es dazu kommen, dass das Atomprogramm wieder aufgenommen wird.

Viele befürchten, dass jetzt auch jedes Abrüstungsabkommen mit Nordkorea unmöglich wird, nachdem Trump gezeigt hat, was er von solchen Abkommen hält. Trotzdem scheint Trump genau das anzustreben und Nordkorea scheint sich darauf einzulassen.

Jan van Aken: Den Zusammenhang habe ich so auch nie gesehen. Nordkorea hat die eigenen Atomwaffen immer als Verhandlungsmasse und Selbstschutz gehabt. Es gab schon vor zwanzig Jahren Deals zwischen den USA und Nordkorea. Die USA haben sie nicht eingehalten, darauf hat Nordkorea weiter Atomwaffen entwickelt. Heute sind die Atomwaffen Verhandlungsmasse. Vertrauen in die USA gibt es in Nordkorea so oder so nicht.