Proteste in Gaza: Alles von der Hamas gesteuert?

Grenzzaun Gaza. Foto: Zero0000 / gemeinfrei

Für die israelische und die US-Regierung gibt es nur diese Erklärung

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Bei 60 durch Schüsse der israelischen Armee getöteten Palästinensern im Gazastreifen steht mittlerweile die Bilanz des gestrigen Tages, wie sie Ha'aretz übermittelt. 2.700 palästinensische Demonstranten am Grenzzaun zwischen Gaza und Israel wurden verletzt, mindestens 1.350 durch Schüsse, berichtet die New York Times.

Im Guardian wird von einer ähnlichen Zahl von Opfern (1.360) durch Schüsse mit scharfer Munition berichtet, mit dem Zusatz, dass die meisten in den unteren Gliedmaßen getroffen wurden. Weitere 400 seien durch Splitter verletzt worden und 980 durch das Einatmen von Tränengas. Insgesamt hätten 1.800 Personen Hilfe im Krankenhaus gesucht.

Eindeutige Bilanz

Sämtliche Zahlenangaben gehen letztlich auf Auskünfte der Gesundheitsbehörde im Gazastreifen zurück. Da dies unter der Hamas-Verwaltung steht, gibt es laut New York Times beim Sprecher der israelischen Armee, Colonel Jonathan Conricus, Zweifel an den Zahlen. Viele, die als Verletzte registriert wurden, hätten lediglich Tränengas eingeatmet.

Es gibt noch eine weitere Zahl: 101 Palästinenser seit Beginn der "Gaza-Proteste" am 30. März getötet worden und "gut über 10.000 wurden verwundet, manche kritisch", berichtet die Publikation +972, deren Autorenbeiträge sich deutlich von anderen Veröffentlichungen unterscheiden. Der Kurs hebt sich deutlich vom Kurs der Regierung Netanjahu ab. Dass bei +972 auch Positionen der Palästinenser und von NGOs stärker als bei der parteipolitischen Opposition im Parlament aufgenommen werden, fällt nun auch stärker ins Auge als noch vor einiger Zeit.

Der Zusatz, den die Autorin Mairav Zonszein den genannten 101 Todesopfern und 10.000 Verletzten unter den Palästinensern hinzufügt, lautet, "dass von keinem einzigem verletzten Israeli" die Rede sei, von "keiner Rakete, die nach Israel abgefeuert wurde, obwohl Israel in den letzten Wochen mehrmals Ziele im Gazastreifen angegriffen habe". (Die palästinensische Aktivisten-Webseite The Electronic Intifada widerspricht, sie berichtet von einem verletzten israelischen Soldaten.)

Die Bedrohung und die Hardliner

In der Perspektive der israelischen Regierungsvertreter gehört dieser Fakt - keine Opfer auf israelischer Seite, sehr viele auf der anderen Seite - an den Rand des Bildes, das zählt. Dieses ist von einer Bedrohung gekennzeichnet.

"Es gibt keine andere Wahl", sagt der israelische Minister für öffentliche Sicherheit, Gilad Erdan ynet (die englisch-sprachige Online-Ausgabe von Yedioth Ahronot).

Wir haben alle Möglichkeiten und alle Szenarios im Kabinett diskutiert. Aber wenn die Massen den Grenzzaun durchbrechen, dann muss man wissen, dass sie innerhalb von einer oder zwei Minuten zu israelischen Wohngebieten laufen können - Tausende, einschließlich Terroristen, die Sprengsätze aufstellen oder mörderische Angriffe ausführen. Die IDF kann das nicht zulassen. Und das ist der Grund, warum ihr Auftrag darin besteht, das Überqueren der Grenzen in jeder Weise, die erforderlich ist, zu verhindern.

Gilad Erdan, Minister für öffentliche Sicherheit

Der Likud-Politiker Erdan gehört zu den Hardlinern, die für ein entschiedenes Vorgehen - d.h. Schüsse - gegen Steinewerfer und Hamas-Kämpfer eintreten. Opfer auf der Seite des Gaza-Protests verglich er mit Nazis, wie Ha'aretz und eine palästinensische Webseite berichteten.

Als Lösung für die Eskalation mit der Hamas empfiehlt er die Rückkehr zu gezielten Tötungen. Für ihn ist eindeutig, dass die Hamas hinter den Protesten steckt. Deren Plan sei es, den Schaden zu maximieren und ebenso die Terrorattacken.

Hamas will so viele Opfer an der Grenze wie möglich und die IDF (israelische Armee, Anm. d. Verf.) und Israel wollen so wenig wie möglich.

Gilad Erdan

Vorwurf: "Israelische Soldaten feuern auf unbewaffnete Zivilisten"

Geht es nach Berichten palästinensischer Quellen, so ist Erdans Darstellung nicht zutreffend. Wie zum Beispiel das al-Mezan Zentrum für Menschenrechte berichtet, feuerten israelische Soldaten an der Ostgrenze des Gazastreifens mit scharfer Munition auf unbewaffnete Demonstranten, die sich versammelten, wie auch auf Journalisten und medizinische Helfer.

Das ist nur ein Beispiel. Wer sich den Bericht der Webseite palästinensischer Akivisten "The Electronic Intifada" anschaut und sich auf verlinkten Twitterseiten umtut, der bekommt den Eindruck, dass von israelischer Seite willkürlich oder auch bloß zur Warnung oder Verunsicherung auf Demonstranten geschossen wurde, mit dem Risiko, dass Menschen getötet werden können.

Nun vertritt die Webseite eindeutig das Lager des "palästinensischen Widerstands", man hat seine eigene Perspektive. Auf die Anschuldigungen oder Vorwürfe gegen die Hamas wird in dem erwähnten Bericht zum Beispiel nicht weiter eingegangen.

Dass die Hamas entscheidend bei der Mobilisierung der Demonstranten aktiv war und ihre Mitglieder die Menge, anscheinend häufig mit Frauen an der Spitze, zum Grenzzaun drängten, geht dagegen sehr klar aus dem Bericht der New York Times hervor - allerdings berichtet ihre Reportage aus dem Gaza-Streifen auch darüber, wie schnell mit scharfer Munition auf unbewaffnete Demonstranten gezielt und geschossen wurde.

Die Menschenrechtsorganisation B'Tselem wirft der israelischen Armee eine "Gleichgültigkeit gegenüber dem menschlichen Leben vor". Der oberste Gerichtshof ist mit einer Petition angerufen worden, um über die "Legalität von Schüssen auf unbewaffnete Zivilisten" zu entscheiden, wie +972 berichtet. Die Entscheidung steht noch aus.