"Wir sind die Muschaheddin"

Taliban-Kämpfer in der Selbstdarstellung der Taliban.

Taliban demonstrieren mit dem Überfall auf die Provinzhauptstadt Farah die schwindende Macht der Regierung

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Am vergangenen Dienstag war es wieder einmal so weit. Die afghanischen Taliban stürmten eine Provinzhauptstadt - in diesem Fall jene im westafghanischen Farah nahe der iranischen Grenze - und nahmen mehrere wichtige Stadtteile ein. Bereits seit mehreren Monaten gilt die Provinz als unruhig. Zahlreiche umliegende Distrikte sind teils unter vollständiger Taliban-Kontrolle. Dass die Aufständischen ihren Blick auf die Hauptstadt werfen, war nur eine Frage der Zeit.

Das Szenario ähnelte jenem in anderen Provinzen, etwa dem nördlichen Kunduz oder dem südlichen Uruzgan. Die Taliban überrannten mehrere Stadtteile und nahmen diese innerhalb kurzer Zeit ein. Die Sicherheitskräfte flohen und ließen wortwörtlich alles liegen. Währenddessen erbeuteten die Aufständischen zahlreiche Waffen, Fahrzeuge und anderweitige Ausrüstung, die für den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte gedacht war. Außerdem brachen sie in ein Gefängnis ein und befreiten mehrere hundert Kämpfer, die dort einsaßen.

Noch am selben Abend meldete die NATO-Mission Resolute Support, Farah gemeinsam mit afghanischen Sicherheitskräften zurückerobert zu haben. Klar war die Situation in der Stadt allerdings noch lange nicht. Am darauffolgenden Tag wurde ein weiteres Mal gemeldet, dass weite Teile der Stadt nicht mehr unter Taliban-Kontrolle seien.

Für die Aufständischen war der Angriff allerdings trotzdem ein Erfolg. Abgesehen von den Beutezügen und der Massenbefreiung weiterer Kämpfer war das Szenario in Farah auch von symbolischer Bedeutung. Die Taliban machten nämlich ein weiteres Mal deutlich, wie blitzartig sie eine Provinzhauptstadt aus der Kontrolle der Kabuler Zentralregierung entreißen können. Ohne amerikanische Luftunterstützung wäre dieser Erfolg, ähnlich wie in anderen Provinzen, ein dauerhafter gewesen. Dieser Umstand macht auch das Versagen der westlichen Streitkräfte deutlich. Denn allem Anschein nach scheint es zur höchsten Priorität geworden zu sein, den Fall von Provinzhauptstädten mit allen Mitteln zu verhindern, um schlechte Publicity zu vermeiden.

Der korrupte Staat mit seinen Warlords arbeitet den Taliban zu

Die politischen Strukturen Farahs machten es den Taliban leicht, in die Provinz einzufallen. Der Provinzgouverneur, Abdul Basir Salangi, und dessen Schar sind nämlich ein weiteres Paradebeispiel des korrupten afghanischen Staates, der sich seit Ende 2001 wie ein Hydra im Land ausgebreitet und vor allem ein Interesse hat, nämlich nach allem zu greifen, was greifbar ist.

Diese typische Warlord-Charakteristik hatte sich Salangi, der einst in den Reihen der Nordallianz kämpfte, bereits vor seiner Amtszeit als Gouverneur angeeignet. Während seiner Zeit als Kabuler Polizeichef in der Karzai-Ära wurde ihm unter anderem vorgeworfen, 300 Häuser - hauptsächlich von armen Bürgern - mit Bulldozern plattgemacht zu haben, um Wohnraum für die Luxushäuser seiner Warlord-Kumpanen zu schaffen.

De facto haben Männer wie Salangi es den Taliban erst ermöglicht, nicht nur im Osten und Süden des Landes - ihren "Heimatregionen" - wieder Fuß zu fassen, sondern auch im Norden und Westen Afghanistans. Salangi hatte übrigens am Tag vor dem großen Angriff das Weite gesucht und die Stadt verlassen.

Salangi selbst steht übrigens, ähnlich wie andere Nordallianz-Figuren, seit langem auf der Abschussliste der Aufständischen. In der Vergangenheit wurden mehrere Attentate auf ihn verübt. Weite Teile der ehemaligen Nordallianz sind Mitglieder der Partei "Jamiyat-e Islami", die in den 1980er-Jahren gegen die Sowjetunion kämpfte. Demnach waren ihre Kämpfer ein Teil der Mudschaheddin-Bewegung. Ihre Führer, darunter etwa Afghanistans ehemaliger Präsident Burhanuddin Rabbani oder der bekannte Kriegsfürst Ahmad Shah Massoud - beide wurden Opfer von Anschlägen - werden von ihren Anhängern bis heute als Helden, die für Gott und Vaterland kämpften, gefeiert.

Doch auch die Taliban, deren selbst erklärtes Hauptziel die Bekämpfung der westlichen Truppen im Land ist, betrachten sich als Mudschaheddin. Alle ehemaligen Gotteskrieger, die sich seit 2001 mit den Amerikanern verbündet haben, werden hingegen seither als Verräter betrachtet.

US-Truppen in Afghanistan sollen die wahren Mudschaheddin sein

Mittlerweile scheint ohnehin so gut wie jeder Akteur in Afghanistan Begriffe wie "Mudschahed" oder "Shaheed" ("Märtyrer") für sich zu beanspruchen. Jede Seite hat ihre Märtyrer und Helden. Gefallene afghanische Soldaten gelten als Märtyrer, ebenso wie getötete Taliban-Kämpfer. Beide Seiten verrichten ihr Gebet, bevor sie in die Schlacht ziehen. Hinzu kommen extremistischere Elemente wie der IS, die auf ihre Art und Weise alle anderen als "Abtrünnige" betrachten und vor keinem Blutbad zurückschrecken. Zu guter Letzt gibt es noch die US-Streitkräfte.

Der bekannte Warlord und gegenwärtige Vizepräsident des Landes, Abdul Rashid Dostum, meinte vor Jahren einmal, dass gefallene US-Soldaten in Afghanistan Märtyrer im islamischen Sinn seien. Damals erntete er viel Spott für diese Aussage. Mittlerweile spielt sich allerdings tatsächlich Abstruses am Hindukusch ab.

Anfang Mai behauptete nämlich Marine-General Robert Neller, dass die US-Truppen in Afghanistan die wahren Mudschaheddin seien. "Die Terroristen bezeichnen sich selbst als Freiheitskämpfer, als Mudschaheddin, aber sie sind das nicht. Sie sind Kriminelle. Sie sind vom Glauben Abgefallene. Sie verstecken sich hinter dem Islam. Sie verkaufen Drogen. Sie töten unschuldige Menschen. Das ist nicht der Islam. Die afghanische Armee und die Amerikaner, wir sind die Muschaheddin", so Neller. Der General erklärte damit die Taliban zu Ungläubigen, und sich selbst zum Gotteskrieger.

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