Marx macht nicht mobil

Zum 200. Geburtstag von Marx muss konstatiert werden, wie wenig Wirkung seine luzide Beschreibung der Probleme erzielt hat

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Die Aktualität von Karl Marx ist leicht zu belegen. Er konnte gemeinsam mit Friedrich Engels bereits im 19. Jahrhundert jene Kräfte beschreiben, die das heutige Leben prägen: Vereinzelung, Paranoia und Fetisch. Diese drei Fehlentwicklungen dürfen als die Hauptmotoren industrialisierter Gesellschaften bezeichnet werden.

Bemerkenswerterweise konnte Marx diese Einsichten gerade auch auf einer psychologischen Ebene sehr gut erfassen, die gar nicht so viel mit den ökonomischen Sachverhalten zu tun hat, die auch Marx persönlich als recht ermüdend empfand. Deswegen erweist sich Marx heute als ein profunder Diagnostiker unseres Alltagslebens und der Populärkultur.

Wie konnte ihm dies Jahrhunderte zuvor gelingen? Dass Marx kein Prophet war, hat die Geschichte eindrucksvoll bewiesen. Seine Vorhersagen wurden widerlegt. Die Arbeiterklasse verwandelte sich nicht in ein revolutionäres Subjekt und kam somit auch nicht in die Verlegenheit die kapitalistische Bourgeoisie als erbarmungslose Herrscherin abzulösen. Die Profiteure des Kapitalismus erwiesen sich schlicht als schlauer und die von ihnen errichteten Strukturen als flexibler, als es Marx und Engels vorhersahen.

Klassenkonflikte werden umdeklariert zu Rassenkonflikten, Revolutionen mussten scheitern, weil der Prozess des Revoltierens in banalisierter Form vom Kapitalismus instrumentalisiert wird und die Bourgeoisie grub nicht ihr eigenes Grab, sondern verzichtete kurzerhand auf viele Aspekte des Lebens, wohl aus blanker Angst, bei allfälligen Änderungen ins Hintertreffen zu geraten. So viel Muff haben Marx und Engels wohl nicht wahrhaben wollen.

Eingewöhnung ins Maschinendasein

Dabei kann diese Bereitschaft zum Lebensverzicht sehr profund aus der Marxschen Analyse des kapitalistischen Wirtschaftens belegt werden. Unterwerfen wir uns nämlich einer fortwährenden "Revolutionierung" der Produktion, dann löst dies ununterbrochen die bestehenden sozialen Strukturen auf.

Die heutige Politik fordert kaum noch etwas anderes als größtmögliche Leistungsbereitschaft und die damit einhergehende Anpassung. Der hiermit einhergehende Lustverzicht wird kaum thematisiert (Leistung macht keine Freude, sie ist das Maschinenkriterium der "Arbeit auf Zeit") und die praktischen Nöte erscheinen nur am Rande. Auch deswegen haben wir zwar "soziale Netze", aber kaum mehr Beziehungen.

Ein kleiner Apparat in der Hosentasche teilt unablässig den Usern seine Forderungen mit, die zwecks Simulation gesellschaftlicher Teilhabe sklavisch erfüllt werden müssen. Diese Apparate (Smartphones oder sonstige handheld devices) hat es vor kaum zehn Jahren noch nicht gegeben. Nachdem die Menschheit in sechs Jahrzehnten nicht den (suchtfreien) Umgang mit dem Fernseher gelernt hat, sind die beinahe stündlichen Neuerungen der sozialen Medien und Smartphones als ein soziales Diktat zu begreifen.

Permanente Anpassung wirkt schwerelos und vollzieht sich mit Datenübertragungsgeschwindigkeit. Widersprochen wird kaum. Marx deutete die böse Pointe bereits in seinem "Kapital" an: Nicht die Roboter werden die Arbeit machen, sondern die Arbeiter werden sich in Roboter verwandeln.

Die Folgen für die Arbeitswelt sind grausam. Ständige Leistungsüberwachung im Amazon-Lager, oder bei den entrechteten Dienern der Zustelldienste ist die Folge. Gerade dieses Arbeitsheer ermöglicht den Endverbrauchern in immer vollständigerer Isolation zu leben. Es braucht enorme Phantasie um sich vorzustellen, wie die so geknechteten und entrechteten Proletarier sich zusammenschließen könnten und aufbegehren.

Die Bourgeoisie hat kein anderes Band zwischen den Menschen gelassen als das nackte Interesse, lesen wir im kommunistischen Manifest, nichts mehr als die gefühllose "bare Zahlung". Und richtig, jedes Datenhäuflein auf Facebook wird mit Geld aufgewogen. Die Frage: "Was bringt mir dies?" kann sekündlich beantwortet werden und das Ziel der Urlaubsreise sind möglichst viele "Likes" für den fotografierten Sonnenuntergang.

Ein zweiter Aspekt hängt hiermit eng zusammen. Die Maschinen sind in ihrem Kern Instrumente der Überwachung. Nachdem einerseits die Zinswirtschaft uns tief den Keim des Misstrauens in die Herzen pflanzte, wie Marx es ausdrückte, und da andererseits zum Erreichen des Kredits die ganze Moralität eines Menschen in die Waagschale geworfen werden muss, erwarten viele insgeheim nur mehr den Betrug von ihren Mitmenschen. Und haben damit leider nicht immer unrecht.

Wirtschaftlicher Erfolg ist eng an ein exklusives Wissen geknüpft. Kenntnisse die man anderen voraushat oder denen vorenthalten kann, lassen sich gut monetarisieren. Eine Finanzindustrie entwickelt laufend Einfälle, wie ein kleiner Informationsvorsprung zu Geld werden kann und achtet hierbei streng darauf, dass diese Prozesse von außen nicht durchschaut werden können, denn dann wäre ja der Vorsprung futsch. Daraus resultiert ein Weltgefühl, das zu jedem Zeitpunkt vermuten muss, dass die eigene Handlung sich früher oder später als Teil des Plans anderer Akteure erweist.

Woody Allen wusste bereits: "Das Schlimmste was einem Paranoiker passieren kann, ist dass er tatsächlich verfolgt wird". Wer ein Gerätchen mit sich herumträgt, das dauernd Daten ermittelt, mit dem Dritte Geld verdienen, braucht entweder eine gut ausgebildete seelische Selbstpflege, um darüber nicht irr zu werden, oder versucht dies gewaltsam zu ignorieren. Was tückischer Weise zum Preis hat, dass die Manipulation noch besser funktioniert.

Über allem schwebt der Fetisch

Vereinzelung und Verfolgungswahn gipfeln in jener monströsen Erscheinung, die ebenfalls von Marx bereits klar diagnostiziert wurde: dem Fetisch. Die produzierten Dinge sind innerhalb des kapitalistischen Produzierens nicht mehr als solche erkennbar, sondern verwandeln sich in zauberhafte Wesen.

Die Beschreibung dieser Verrücktheiten, die seit Marx und Engels auf dem Tisch liegen, stößt heute meist nur auf Unverständnis. Allerdings, gibt es etwas Verrückteres als den Besitz eines Automobils zu begehren oder vielleicht sogar das Fahrzeug selbst zu lieben?

Die Transportmaschine verlangt von ihrem Besitzer große Investitionen, Aufmerksamkeit und nicht zuletzt permanente Arbeit, weil das Steuern, das beispielsweise der Busfahrer für seine Gäste übernimmt, selbst erbracht werden muss. Meist geschieht dies übrigens in lähmenden Staus. Aber alle scheinen sich über ihre Blechkisten zu freuen. Es mag sein, sie genießen darin ihre Abgeschiedenheit und die Simulation von Unabhängigkeit, die ihnen der Griff ans Lenkrad schenkt. Hauptsächlich erkennen sie darin aber eine zum Fetisch gewordenen Ware.

Die ganze Arbeit, die in der Produktion des Fahrzeugs floss, ist nicht mehr gegenwärtig. Wäre die soziale Beziehung, die darin liegt, dass ein anderer Mensch für den Käufer gearbeitet hat, sichtbar, dann könnte die meisten Menschen nicht einmal mehr ein T-Shirt kaufen. Denn nur die grausamsten Sadisten würden für ihre Hemden ein kleines Kind im Nebenzimmer erbärmlich schuften lassen. Wenn das Kind aber in einer Fabrik verborgen ist, fällt die Sache leicht.

In der Abstraktion von der geleisteten Arbeit erhält die Ware einen objektiven Charakter, der ihr ihren weltbewegenden Rang ermöglicht. Eine Ware, schreibt Marx im "Kapital", wird somit zu einem mysteriösen Ding, das sinnlich und übersinnlich zugleich, ihr eigenes Leben zu haben scheint. An diesem gilt es Teilhabe zu erlangen. Somit wünschen die Menschen sich Aufnahme in die Welt der Waren, durchaus auch indem sie sich selbst versuchen in welche zu verwandeln.

Der Mensch produziert nicht für den Menschen, sondern für die Ware, die wie von einem Demiurg göttlich geformt über allem schwebt. Wird eine Ware als Gegenstand ihres Gebrauchswerts beschrieben, erscheint sie als eine öde Trivialität, die niemals die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse begreifbar machen kann. Die Präsenz der Zauberware kann dies hingegen schon, denn ihre Nähe schenkt allem Bedeutung und deswegen kann die Kaufhandlung (und insbesondere auch die bloße Möglichkeit dazu) als Lebensessenz wahrgenommen werden.

Marx entwickelte gegenüber diesen verrückten Verhältnissen einen alttestamentarischen Eifer, in leichter Abwandlung des Bachkantate "Es ist Dir gesagt, Mensch, was hier abgeht", glaubte er an die Kraft der Aufklärung. Durch sie hielt er einen geplanten Wandel für möglich. Damit hat er ohne Frage Recht. Auch suchte er nach praktischen und rationalen Lösungen, wenn er auch zuweilen prophetisch spekulierte.

Heute zeigt sich, auch wenn dank Marx und anderer die Lage eingehend beschrieben wurde, dann lässt sich leider mit der Täuschung mehr Geld verdienen. Wer annimmt getäuscht glücklich werden zu können, übersieht mit Eifer die (seelischen) Folgen kapitalistischen Wirtschaftens. Diese sind aber beträchtlich und wahrhaft furchterregend. Klimakatastrohe, atomare Kriegsgefahr und dergleichen sind nur dadurch zu begreifen, dass den politischen und ökonomischen Akteuren durch den Warenfetisch die Sinne benebelt wurden.

Im Weißen Haus oder beim Volkswagenkonzern hält man die Welt (seien es Steine, Pflanzen, Tiere oder Menschen) für ein Stück nichtwürdigen Dreck. Erst wenn der Weltbestand in die Warenform gepresst werden kann und mittels dieser ein abstrakter Tauschwert erlangt wird, verliert die Welt im Blick der Kapitalisten ihren "Dreckscharakter". Somit darf sich niemand darüber wundern, dass kapitalistische Akteure alles, und zwar restlos alles zu zerstören bereit sind. Es wird sehr schwer werden, sie davon abzuhalten.

Frank Jödicke ist Redakteur der Zeitschrift skug, die zum Marxjubiläum versucht hat, mittels zahlreicher Autoren von Friedrich Tomberg bis zu Konstantin Wecker einen möglichst vielseitigen Blick aufs Marxsche Werk zu gewinnen.