Aufrüstung ohne Entrüstung

Nato will einen Bereitschafts-Pool von 30.000 Soldaten einrichten - Presse-Aufschrei bleibt aus

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Die Springerpresse ist mal wieder gut informiert: Wegen möglicher Provokationen aus Russland soll die Nato einen neuen Bereitschafts-Pool von 30.000 Soldaten aufbauen - mit "führender Rolle" für Deutschland. Die Nato will nach Informationen der Welt am Sonntag für den Fall eines Angriffs aus Russland ihre Reaktionsfähigkeit verbessern und weiter aufrüsten. (UPDATE: Die Nato dementiert inzwischen.)

Die unkritische Übernahme dieser Information durch andere Medien wirft zwei Fragen auf:

1. Welche andere Funktion als die Bewahrung vor Moskaus Horden hatte die Nato nach Meinung von Qualitätsjournalisten denn so in den letzten sechs Jahrzehnten gehabt?

2. Halten Qualitätsjournalisten einen "Angriff von Russland" für wahrscheinlich?

3. Welchen Abschreckungswert messen Qualitätsjournalisten westlichen Streitkräften in einem konventionellen Krieg bei?

Dann wollen wir mal den Kollegen etwas unter die Arme greifen.

Zu 1: Welche Funktion hatte die Nato?

Die erste Frage ließe sich wohlwollend noch dahin beantworten, dass eine Sekundärfunktion der Nato darin zu sehen sein könnte, die Mitglieder wenigstens vom Krieg führen gegen einander abzuhalten. Die historische Primärfunktion der Nato war allerdings weniger die "Verteidigung", vielmehr hatten die Gründerväter der Nato im Pentagon die Absicht, die Sowjetunion möglichst bald anzugreifen. So vertraten es offen Strategen wie Air Force-Chef Curtis LeMay und Nato-Chef Lyman Louis Lemnitzer.

Dem Plan stand zeitweise die Regierung Kennedy im Wege, dann wiederum das inzwischen erzielte nukleare Gleichgewicht. Als Trump-Vorläufer Reagan davon träumte, als Feldherr des Dritten Weltkriegs in die Geschichte einzugehen, hätte man es 1983 beinahe geschafft, den Planeten versehentlich zu nuklearisieren (Um Haaresbreite). Hauptfunktion der Nato ist gegenwärtig wohl eher der Selbsterhalt.

Zu 2: Wird Russland angreifen?

Nö. Warum sollten sie denn? Russland verkauft uns Gas und seine Töchter, umgekehrt importiert man deutsche Autos und Viagra. Die Russen haben definitiv Besseres zu tun, als Westeuropa zu überrennen und sich so die Probleme von 741 Millionen Westeuropäern wie deren Massenarbeitslosigkeit einzuhandeln, sowie Spinner aus dem Prenzlauer Berg.

Das Desinteresse an einem Einmarsch ist schon ein bisschen länger so. Hätten die Russen in den 1950er Jahren tatsächlich Angriffspläne gehabt, wären sie auf Nachschublinien durch die DDR angewiesen gewesen, die bei der russischen Armee traditionell auf der Schiene verliefen. Im Gegenteil jedoch ließen die Russen Gleise aus DDR als Reparation rausreißen und als Reparationsgüter nach Russland bringen.

Es überrascht allerdings nicht, dass die im Schachspiel begabten Russen dem Aufbau der Nato nicht tatenlos zusahen, zumal man die Mentalität von deren Hardlinern kannte. Sieht man mal vom Sonderfall Afghanistan ab, hatten die Russen Grenzen stets geachtet. Selbst im sehr speziell gelagerten Fall der Krim, die Russland als traditionell russisch betrachtete, nahm Moskau sich diese, ohne einen Schuss Pulver abzufeuern.

Zu 3: Würden mehr Nato-Truppen Russland abschrecken?

Das nukleare Patt wird die Parteien zweifellos abschrecken – konventionelle Nato-Streitkräfte tun das wohl eher nicht. Bereits im Kalten Krieg wäre nach allen Planspielen der Westen nach nur wenigen Tagen überrollt worden. Die heutige Bundeswehr, die gegenwärtig weder über einsatzfähige U-Boote, Kampfhubschrauber oder Transportflugzeuge oder auch nur über verlässliche Gewehre verfügt, wird kaum als Angstgegner wahrgenommen (Sehr, sehr bedingt abwehrbereit). Nach eineinhalb Jahrzehnten Afghanistan-Krieg der USA hat man in Moskau vermutlich ausreichend Arbeitsproben westlicher Kriegskunst gesehen.

Man muss nun wirklich kein Militärexperte sein, um Sinnlosigkeit und Kontraproduktivität der Rüstungsspirale zu erkennen. Die eigentliche spannende Frage ist, warum Nato-Propaganda in den Medien so kritiklos transportiert wird. Dabei steht die zur Gewährleistung der Überparteilichkeit öffentlich-rechtlich organisierte Tagesschau der Springerpresse keinen Deut nach, wie neulich fernsehkritik.tv analysierte.