Fußballpolitik

Fotos: Kreml/CC BY 3.0 und Fisht Olympic Stadium 2017/ Эдгар Брещанов / CC BY-SA 3.0

Putins Spektakelgesellschaft inszeniert in der Krise der Demokratien ein neues Paradigma des Politischen

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Politik ist nur noch wenig mehr als ein Kampfsport.

Bill Clinton

Die am kommenden Donnerstag beginnende Fußball-Weltmeisterschaft ist mehr als nur ein Fußballereignis. So wie seit jeher Fußball mehr ist als nur Fußball. Der russische Präsident und Kampfsportler Wladimir Putin wird die WM erwartungsgemäß zur Selbstdarstellung nutzen, zur Stabilisierung seines autoritären, aber keineswegs undemokratischen Herrschaftssystems.

Dass dieses Konzept politischen Marketings blendend aufgeht, belegen bereits die WM-Vorberichterstattungen der letzten Wochen. Da werden beflissen Sünden und Korruption der FIFA bilanziert, da wärmen Sportjournalisten den Berichterstattungsdauerbrenner "Doping in Russland" wieder auf und recherchieren über die Vergabe der Bauaufträge der diesjährigen WM-Stadien - die politische Funktion der Spiele für das Regime und für die Regierungen im Westen wird aber nicht im Ansatz zum Thema.

Dabei liefert Putins Regime einen schlagenden Beleg dafür, dass Demokratie und Autoritarismus entgegen langläufiger Vorstellungen kein Widerspruch sind. Das waren sie noch nie. Zur Erinnerung: Schon die römische Demokratie erlaubte die Diktatur auf Zeit. Der römische Staatsmann Sulla ist hierfür das berühmteste Beispiel.

Putins Art der Regierung zeigt zum zweiten deutlich den Unterschied zwischen moderner und postmoderner Demokratie. In modernen Demokratien stellen Wahlen nur ein Indiz demokratischer Zustände dar. Ihnen gleichberechtigt sind Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, der Schutz von Minderheiten, Pressefreiheit und eine ausdifferenzierte Öffentlichkeit als Ort transparenter, aber auch geregelter politischer Kommunikation über Themen und Lösungswege.

Im Gegensatz dazu verstehen post-moderne Demokratien Wahlentscheidungen als Startschuss zu einer Diktatur der Mehrheit, zur Auflösung von Gewaltenteilung und differenzierter öffentlicher Kommunikation in einem diffusen Volkswillen.

Auch die Rolle des Fußballsports für postmoderne Demokratien und der Zusammenhang zwischen Fußball und Demokratie wird zu wenig zum Thema der Berichterstattung im Vorfeld der WM.

Zur Bedeutung des Fußballs

Dabei sollte man sich über die immense politische Bedeutung des Fußballs als des wichtigsten medial vermittelten Massen-Sports längst keine Illusionen mehr machen.

Zur Erinnerung: Soziale Integration und politische Identitätsbildung in modernen Gesellschaften werden zunehmend über Medien geleistet. Zugleich führt die Ausdifferenzierung des Medienangebots in den letzten Jahrzehnten zur Bildung von Medienghettos und Medienblasen. Die Menschen lesen, schauen und hören nur, was ihnen nach dem Mund tönt. So es sich um Migrantengruppen und ethnisch-religiöse Minderheiten handelt, konsumieren sie zunehmend oft sogar Medien in der jeweiligen Sprache des eigenen Herkunftsmilieus.

Der medial vermittelte Massen-Sport nimmt hier eine Sonderrolle ein. Denn er bildet einen der wenigen Medieninhalte, die Schichten übergreifen, Blasen sprengen und Ghetto-Grenzen überschreiten.

Öffentlichkeit im klassischen Sinn, als Integrations- und Erziehungsmotor einer Gesellschaft, ist außer über politische Ausnahmefälle, Katastrophen und wenige "gesellschaftliche Events" (wie "Königliche Hochzeiten") nur noch über Sport-Großereignisse hergestellt. So finden sich in den jährlichen Listen der meistgesehenen Fernsehereignisse regelmäßig Fußball-Live-Übertragungen unter den Spitzenpositionen.

Fußball bietet auch andere Vorteile: Er besteht aus einfachen Inhalten und Regeln, er produziert fortlaufende neue Ereignisse, und verfügt über ausreichend Gesprächsstoffe für Anschlusskommunikation. Fußball-Nationalmannschaften moderner westlicher Staaten produzieren zudem gerade durch ihre multiethnische Zusammensetzung Identifikationsangebote für verschiedenste Teilmilieus.

Die Vorteile nutzen alle Regierungen. Besonders beliebt sind sie aber bei autoritären Herrschaftsmodellen.

Das Unbehagen in der Demokratie

In der demokratischen Politik ist ein Verfall des Politischen zu beobachten. Das Politische in der Politik - der Streit um Visionen und Handlungsoptionen, um das bessere Argument; der Wille und die Bereitschaft, Realität zu verändern; der Ernst der Debatte - wird ausgehöhlt und durch ausschließlich symbolische Inszenierungen ersetzt. Streit wird simuliert.

Innerhalb der politischen Klasse selbst ist der Glaube an die politische Gestaltbarkeit der Gesellschaft verloren gegangen. Das Funktionieren von Demokratie scheint nicht mehr gewährleistet zu sein.

Es war offenbar eine Idiotie zu glauben, dass ökonomischer Wohlstand automatisch zu politischer Freiheit führt, dass die Einführung der Marktwirtschaft das Interesse der Marktteilnehmer an fairem politischen Wettbewerb steigert. Demokratie entpuppt sich im Gegenteil gerade als ein Schönwettersystem, das dann funktioniert, wenn die Verhältnisse stabil und nicht grundsätzlich bedroht oder herausgefordert sind.

Ein System, das taugt, wenn zum Aufräumen der Scherben und Trümmer nach einer politischen Katastrophe Verantwortung auf möglichst viele Köpfe verteilt und große Teile der Gesellschaft integriert werden müssen. Umgekehrt wurde Demokratie in Kriegs- und Krisenzeiten schnell de facto außer Kraft gesetzt - von Sulla bis Churchill.

Auch jetzt wieder scheint Demokratie den Problemen, vor die Demokratien gestellt sind, nicht gewachsen zu sein. Auch scheint sie zur Selbstverteidigung und zur Gefahrenwahrnehmung weitgehend unfähig.

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