Abweisung von Migranten an der Grenze: EU-Politik oder Masterplan einzelner Länder?

Seehofer und Merkel im Streit über die Migrationspolitik und eine komplizierte rechtliche Ausgangslage

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Es gibt neuen Streit in der Migrationspolitik zwischen Merkel und Seehofer. Seehofer wollte seinen "Masterplan" dazu morgen in der Bundespressekonferenz vorstellen. Das wurde aber abgesagt, weil sich die Kanzlerin und der Innenminister laut mehreren Medienberichten nicht darüber einig sind, wie die deutsche Position zu Zurückweisungen von Migranten an der Grenze aussehen soll.

Konkret: Soll Deutschland in Zukunft Ausländer an der Grenze zurückweisen, die aus einem sicheren Drittstaat kommen und in Deutschland um ein Asylverfahren bitten?

Tagesschau

Die Frage hat eine enorme politische Wucht und viele Seiten. Dazu gehört zum Beispiel, dass die CSU bei der Landtagswahl im Herbst unbedingt gut abschneiden will, dass die schwache SPD, die kein eigenes, überzeugendes Konzept hat, nun aus dem Streit innerhalb der Union ein paar Pluspunkte holen will.

Dazu gehören die Entscheidungen vom September 2015 und die daraus folgende Politik des Durchwinkens und der offenen Grenzen, bis im Frühjahr 2016 die Balkanroute geschlossen wurde - und das seither anhaltende Hoch der AfD und der neuen Rechten.

Zur Grenzfrage gehört auch, dass Merkel mittlerweile eine neue Wertschätzung für Orbàns Grenzpolitik entwickelt hat. Ungarn mache an der EU-Auengrenze zu Serbien "gewissermaßen für uns die Arbeit", sagte sie am vergangenen Sonntag bei Anne Will. Das wäre ihr früher nicht so einfach über die Lippen gekommen.

"Steuern und ordnen"

Damit ist auch ein Problem der Ebenen angesprochen, von dem im Streit zwischen Merkel und Seehofer berichtet wird: Merkel strebt demnach eine europäische Einigung an, Seehofer richtet seinen Schwerpunkt auf Lösungen, die in Deutschland in eigener Regie gemacht werden können.

Er will hier und jetzt "steuern und ordnen", gibt der Innenminister und CSU-Chef in seinen Erklärungen zu verstehen. Merkel will die Frage, wie die deutsche Grenzpolitik gegenüber Migranten aussehen soll, zusammen mit den anderen EU-Ländern klären. Die nächste Sitzung des Europa-Rates gilt dafür als Schlüsselereignis.

Europäisches Recht geht vor nationales Recht

Rechtlich gesehen ist die Sache sehr kompliziert. Sie läuft aus dieser Sicht eher darauf hinaus, dass Merkels europäischer Ansatz derjenige ist, der an den entscheidenden politischen und juristischen "Stellschrauben" arbeitet (von Ausnahmesituationen, in denen jeder Staat völlig souverän handeln kann, abgesehen).

Denn europäisches Recht geht vor nationales Recht. Das bedeutet, wie es der Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz, Daniel Thym, im April im Tagesspiegel in kurzer Form und ausführlich Anfang Mai im Verfassungsblog darlegt: "Maßgeblich sind die Dublin-Regeln, nicht ein isolierter Blick in das Grundgesetz." Das habe auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt.

Folgt man den Ausführungen des Juristen zur Anwendung der Dublin-Regeln, so stellt sich die Frage, ob Seehofers neue Informationsgrundlage zu Migranten, die er nun über die Europäische Asyldatenbank hat, reicht, um ihnen den Grenzübertritt zu verbieten. Bislang gelten laut Thym für die Behandlung von Migranten, die bereits in einem anderen Land EU-Gebiet betreten haben, folgende Regelungen zum "Überstellungsverfahren":

(…) in der Sache erklärt die europäische Dublin-Verordnung zwar in den meisten Fällen einen anderen Staat für zuständig, verknüpft dies jedoch mit einem Überstellungsverfahren. Die deutschen Behörden dürfte viele Asylbewerber zurückschicken, allerdings nicht zu unseren direkten Nachbarn in Österreich oder der Schweiz, sondern in die Außengrenzländer Italien, Griechenland oder Kroatien.

Die Crux ist nun, dass die Rückführung nur innerhalb einer Frist möglich ist. In Artikel 29 der Dublin-Verordnung steht nämlich schwarz auf weiß, dass Deutschland ein eigenes Asylverfahren durchführen muss, wenn die Überstellung binnen sechs Monaten nicht gelingt. Deutschland könnte die Dublin-Regeln also strenger handhaben und hätte dies auch im Winter 2015/16 tun können, aber es ist noch kein Rechtsbruch, eine Handlungsoption nicht zu nutzen.

Daniel Thym

Der letzte Satz bezieht sich auf die seither viel diskutierte Anweisung des damaligen Innenministers de Maizière von September 2015, die Thym, wie im Zitat angedeutet, nicht als Rechtsbruch sieht. Seiner Auslegung nach wäre sie nämlich rechtlich gar nicht nötig gewesen. Die Regierung hatte damals erklärt, dass sie keine Flüchtlinge an der Grenze abweisen werde, auch wenn sie aus sicheren Drittstaaten kommen, so die Anweisung von de Maizière.

Die deutsche Regierung habe damit formell nicht gegen die Dublin-Verordnungen verstoßen, politisch hätte man dies freilich anders machen können, wie es Thyms darlegt. Es habe aber durchaus politischen Gestaltungsraum gegeben und es gebe ihn auch jetzt, wenn man keine offene Grenzen haben will, so der Rechts-Professor.

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