Deutscher Code geknackt

WM 2018: Ozean der Unfähigkeit, Trainerteam im Datendschungel, es bleibt die Frage: Fehlt ein Messias - oder eher ein Hirndoktor?

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Ein ambrosisches Foto vom Auftaktspiel der teutonischen Elf geht um die Welt, vergangenen Sonntag, Deutschlands Coach Joachim Löw hält die Hände vors Gesicht und hebt sein Haupt empor: Doch in welche Art von Zukunft schaut der Meister da? Erblickt er Licht am Horizont, oder, ach du Schreck, am Ende nur einen "Tropfen in einem Ozean der Unfähigkeit" (Cancha, 19.06.2018)?

Wir Fußball-Egalos wünschen ihm gar nichts, aber da Jogis Mannschaft so offenkundig daneben lag, hier doch ein strategisches Wort. Ja, was treiben sie denn da im fernen Moskau, der Bundestrainer und sein Assistenz- und Analyseteam …

Vorige Woche hatte der DFB in einer Pressekonferenz stolz sein "Trackingsystem" vorgestellt, da ging es um künstliche Intelligenz (KI) und um die Auswertung von Spieldaten in Echtzeit. Auf der Tribüne im Luschniki-Stadion saßen denn auch Löws Assistent Marcus Sorg und Co-Trainer Thomas Schneider einträchtig beieinander, modern vernetzt per Headsets, aber es gab ersichtlich 45 Minuten lang keine wahrnehmbare taktische Anweisung. Ließ das Trainerteam seine merklich überforderte Mannschaft im Stich? Nicht nur der Kölner Stadt-Anzeiger fragt besorgt: "Verlaufen sich die Fachleute (…) im Datendschungel?" (KStA SPORT, 19.06.2018).

Ein üppiger Begleittross, aber nix Kapito

Innenverteidiger Jérôme Boateng und Kollege Mats Hummels werden beinahe wortgleich zitiert: "Es kann nicht sein dass wir in einer Halbzeit in fünf Konter laufen. Wir haben tagelang drüber gesprochen, aber es immer noch nicht kapiert."

Also mehr als ein normales Kommunikationsproblem? Löws Kontrahent, der mexikanische Trainer Juan Carlos Osorio, erklärt derweil munter, man habe das deutsche Spiel bereits vor einem halben Jahr "decodiert" - und die eigene Taktik dementsprechend ausgerichtet.

Der konservative deutsche Coach hatte für das intelligente Spiel der Mexikaner offenkundig keinen Plan B parat, die Deutschen steckten fest in ihrer eigenen Dogmatik. Manager Oliver Bierhoff versucht es auf den Punkt zu bringen, jedoch augenscheinlich ohne höhere Einsicht: "Wir sind ihnen in die Falle gelaufen". Die Frankfurter Rundschau frotzelt mit mehr Tiefgang - und bietet Hilfe vom Professor an:

Es gibt sechs Special Coaches für Körper und Geist im üppigen Begleittross der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, vier Teamärzte, vier Physiotherapeuten, vier Scouts und noch eine Menge mehr dienstbare Geister. Ein Hirnforscher fehlt allerdings als Ratgeber für Joachim Löw.

Frankfurter Rundschau

Damit ist Professor Hans-Peter Thier aus dem Heimatland gemeint; er stellt, wie man nachlesen kann, unangenehme Fragen.

"La Mannschaft" als Schlachtopfer

Interessant die Stimmungslage in den Medien, inklusive den sozialen Netzwerken, nach dem Sieg von Mexiko über Deutschland. Spürbare Häme bei den Karikaturisten: Da wird der weiß gewandete Fußball-Teutone schon mal zum willenlosen Schlachtopfer, dem die ungezügelten Wilden das Herz aus dem Leib reißen und triumphal gen Himmel halten - nach brutaler Aztekenart.

Das Heiligenbild dagegen zeigt einen galaktischen Fußballgott, den Retter im Style des Messias. Während der huldvoll seine Hände ausbreitet, erklärt der Text: "Ya ven, si madrugan si les ayudó". Auch wer des Spanischen nicht mächtig ist, versteht: Es hat irgendwas mit Frühaufstehen und kosmischer Weisheit zu tun.

Deutschlands Code geknackt

WM-Auftakt 2018: Deutschlands Code geknackt, die Helden aus dem All unsanft auf dem Boden der Tatsachen zurück. Beobachter und Analysten stochern noch nach Ursachen und möglichen Strategien, um den Karren für den Rest der WM flott zu machen. "Was kümmern mich deine galaktischen Namen?" hänselt passgenau die argentinische "Ole" und lobt die mexikanische Respektlosigkeit.

Na, und ausgerechnet unsere europäischen Nachbarn sticheln extrem unsportlich gegen La Mannschaft: "Jetzt muss Deutschland in dreckigen Tüchern schlafen" (Le Parisien).

Eine Riesenshow, 111 Leute im deutschen Begleittross, nagelneues Trackingsystem, mächtig große Töne und hehre Ziele - macht alles leidlich gespannt, was aus den Tiefen des Raums noch kommt. Warum eigentlich am Samstag nicht mal ins Kino gehen? Wollten wir schon länger mal wieder tun.