Die deutsche Titanic

Historische Schmach im Land der Tataren: Deutschland ist Weltmeister - des Hochmuts und der Angst. Ein Land hat sein Wintermärchen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Noch immer das hölzern pedantische Volk, / noch immer ein rechter Winkel / In jeder Bewegung, und im Gesicht / Der eingefrorene Dünkel.

Heinrich Heine "Deutschland - Ein Wintermärchen

Soll man die Erzählung mit dem Aussehen anfangen? Mit den kurzgeschorenen, akkurat nach hinten gekämmten Haaren von Süle, Kimmich, Kroos, die bei manchen sofort den Gedanken "Nazifrisuren" aufkommen lassen, auch wenn sie bei Kroos noch mit Gel glattgeschmiert und gelegt sind. Oder mit den Tatoos?

"Tätowierungen sind die Verletzungen der Seele, die nach Außen ragen", hat C.G. Jung mal gesagt. Früher waren es primitive Naturvölker und die Sträflinge, die sich tätowiert haben - jetzt die Sportler, die modernen Gladiatoren. Stärke und Härte wird hier simuliert, aber man sieht die Kindergesichter in der kruppstahlharten Maskerade nur noch deutlicher. Bubis, Hipster, kaum Männer.

Hummels wirkt am ehesten noch normal, anderen möchte man lieber nicht im Dunkeln begegnen, die Draxlers, Werners und Brandts sind Kinder, und selbst Neuer, zweifellos ein gottbegnadeter Fußballer, aber angeblich auch Kapitän und "Führungsspieler" dieser National-Mannschaft, wirkt wie einer, der Klassen übersprungen hat und jetzt Abi macht.

Kroos ist da eine wohltuende Ausnahme. Er steht zwischen den Alten und den Jungen, er ist wie Müller, schon erfahren, aber immer noch nicht am Zenit angekommen.

Und die Erwachsenen unter ihnen, Khedira und Gomez z.B., sind alle so seltsam zurückgenommen. Sie reden wie die Mannschaft spielt: Zart, leise, tastend, wenn man es freundlich sagen will; müde, blutleer, vollkommen uninspiriert, wäre präziser. Immer fehlt irgendwas. Eine große, zumindest erkennbare Emotion und sei es Verzweiflung, Wut, Zorn. Aber kein Zug, kein Ruck ging durch ihre Sätze und schon gar nicht durch ihr Spiel auf dem Rasen.

Die Mannschaft der Hipster war ausgelaugt, müde, fertig. Das lag auch an einer kräftezehrenden Saison - weil diese aber auch Spieler anderer Mannschaften hinter sich hatten, muss man sagen: Es lag noch mehr an dem fehlenden Funken, an einer Art Blindheit für das Nächstliegende.

Man muss aus Liebe zum Sieg spielen und nicht aus Angst zu verlieren.

Juan Carlos Osorio, der kolumbianische Nationaltrainer von Mexiko

Es war eine ratlose Vorstellung von Anfang an, aber zugleich war man sich nie sicher, ob eben dies der Mannschaft überhaupt bewusst war. Kein Einfall, kein Plan B. Noch schlimmer aber: Kein taktisches Geschick; kein Vermögen, umzustellen und sich etwas einfallen zu lassen. Und keinen, der auf dem Platz auch nur versuchte, die Initiative zu ergreifen.

Es gab in dieser deutschen Nationalmannschaft nicht nur keine erkennbare Kommunikation zwischen den Spielern, es gab vor allem keine "Achse", wie Olli Kahn das nannte. Es gab keine erkennbaren Kommandeure und keine Struktur, sondern nur elf Individualisten auf dem Platz, von denen jeder sein Ding machte. Zusammengewürfelt, aber nicht nach dem Leistungsprinzip, sondern nach den schrägen Vorlieben eines Trainers, dem seit acht Jahren keiner mehr widersprochen hat, denn der Mann hatte ja Erfolg.

Natürlich denkt man dann bei diesen maulfaulen Spielern, die keinen Satz geradeaus sagen können und immer irgendeinen Kopfhörer im Ohr und ein Daddelding in der Hand haben, an viele viele bunte Smarties. Und die miserable Kommunikation hat auch etwas mit der Smartphone-Generation zu tun. Aber zumindest während einer WM sollten sich manche in Zukunft vielleicht doch weniger um ihren Instagram-Account kümmern.

Unfähigkeit zur Selbstkritik

Oder beginnen wir mit dem Ort? Wo liegt eigentlich Kazan? An der Wolga, aber weit weg von Stalingrad, bis hierhin hat es die Heeresgruppe Mitte nicht geschafft. In Tataristan, bei den Tataren also, ging die deutsche Nationalmannschaft unter. Und nun ist "das Unvorstellbare", wie Bela Rethy in der Stimme eines Vaters der Nation formulierte, eingetreten: Deutschland ist erstmals in einer WM-Vorrunde ausgeschieden. Und das auch noch gegen richtig Fremde, gegen Asiaten und wieselflinke Mexikaner, nicht gegen blonde nordische Schweden. Ein weiterer Grund zur Angst vor dem Fremden.

Was hat diese Pleite mit dem Land zu tun, als dessen Repräsentant die Nationalmannschaft nach Russland gekommen war? Mit Steuergeldern alimentiert, das wollen wir nicht komplett vergessen.

Deutschland spiegeln

Eine ganze Menge. Denn diese Nationalmannschaft, ihr Spielstil und ihr sportliches Abschneiden, ihre öffentlichen Auftritte und die entsprechenden Nebengeräusche, spiegeln perfekt sehr vieles von dem, was gerade in Deutschland los ist: Die Angst vor Fehlern, die rätselhafte Apathie, mit der noch die schlimmsten Dinge so hingenommen werden. Das Schönreden mehr als mäßiger Leistungen und die Aggression gegen all jene, die das Schönredespiel nicht mitmachen.

Die Unfähigkeit zu streiten. Der Unwille zu streiten und Widerspruch zu ertragen. Die Unfähigkeit zur gelassenen Selbstkritik, zur öffentlichen Auseinandersetzung und öffentlichen intellektuellen Analyse eigener Fehler.

Wo doch Kritik aufkommt und unüberhörbar wird, setzt es Medienschelte und rabiate Wagenburg-Mentalität - man erinnert sich an die "pressefreien Tage" und die unverhohlene Aggression, mit der angebliche Führungs-Spieler wie Toni Kroos nach dem Schweden-Sieg trotzig davon redeten, "manche zuhause" hätten wohl auf ein Ausscheiden gehofft.

Dabei wissen die verwöhnten Kicker gar nicht, das den deutschen Medien - wie dem Fußball die Konsequenz - auch die Härte der journalistischen Kritik fehlt. Nur ein Blick darauf, wie Argentinien mit schwachen Leistungen der "Albiceleste" umgeht: Eine Schweigeminute im Fernsehen, live. Das sollte man den Dauerquasslern unserer Sender mal sagen.

All solche Phänomene bündeln sich zu einer großen Lähmung und Müdigkeit, die sich wie Mehltau über die Mannschaft legt - wie über das Land. Arroganz und Hybris ist dessen eine Seite, die andere heißt Unsicherheit und Angst.

Gereiztheit und Arroganz, ein unflexibles Festhalten an alten Mustern, eine Unfähigkeit zur Erneuerung und dem Neuerfinden und die Lust an der Medienschelte, eine generelle Müdigkeit scheinen jedenfalls die Regierung, die Nationalmannschaft - das deutsche Kino übrigens auch - und eben die ganze Republik erfasst zu haben.

Deutschland war Weltmeister, Exportweltmeister, Lehrmeister Europas. Wenn es das bleiben will, dann muss es alles verändern. Und wenn es nichts verändern will, dann wird es das nicht bleiben.

Wie die Mannschaft tritt aber auch die Regierung des Landes erkennbar unabgestimmt auf, ohne Matchplan und ohne die Fähigkeit, einen Plan B zu entwickeln, falls das Spiel nicht läuft. Und ohne die Fähigkeit zum direkten Spiel nach vorn. Es gibt keine erkennbare Kommunikation innerhalb der Mannschaft.