Merkel: Nicht Retterin, sondern Getriebene

Bild: European Union

Beim EU-Gipfel in Brüssel drehte sich alles um Italiens Ministerpräsidenten Conte - und nicht um Kanzlerin Merkel wie üblich. Der Streit stärkt vor allem die Hardliner in der Flüchtlingspolitik, Auffanglager in Afrika rücken näher

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Dies war ein denkwürdiger EU-Gipfel. Man konnte das Treffen der 28 Staats- und Regierungschefs als "Schicksalstag" für Kanzlerin Angela Merkel beschreiben, wie dies die meisten deutschen Medien tun. Schließlich wollte Merkel in Brüssel eine "Koalition der Willigen" um sich scharen, um ihren aufmüpfigen Innenminister Horst Seehofer und seine CSU auszubremsen - und den eigenen Machtverlust abzuwenden.

"Merkel kämpft", heißt es in dieser halbamtlichen Lesart, und ihre echten oder vermeintlichen Erfolge rücken in den Blickpunkt. So erklärten sich Frankreich, Griechenland, Spanien, Luxemburg und Finnland am Rande des EU-Gipfels grundsätzlich bereit, Rücknahmeabkommen mit Deutschland zu schließen und so den unionsinternen Streit um die "Sekundärmigration" zu entschärfen.

"Wir benötigen eine gemeinsame Antwort auf die gemeinsame Herausforderung Migration", sagte der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez. Solidarität sei wichtig, gerade mit Deutschland, das derzeit in einer politischen Krise stecke. Der Luxemburger Ministerpräsident Xavier Bettel übte sogar offene Kritik an der CSU: "Es kann auch nicht sein, dass irgendeine bayerische Partei entscheidet, wie Europa funktioniert."

Es ist die altbekannte Story von der mutigen Kanzlerin, die Europa rettet - und ganz nebenbei auch sich selbst.

Abschottung ist erste Pflicht

Man konnte es aber auch ganz anders sehen - und den Fokus zur Abwechslung auf Österreich und Italien legen. Denn der österreichische Kanzler Sebastian Kurz und der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte waren die eigentlichen Hauptdarsteller dieses Gipfeltreffens.

Kurz, der zusammen mit der rechtspopulistischen FPÖ regiert, übernimmt am Wochenende den halbjährlich wechselnden EU-Vorsitz. Er nutzte den Gipfel, um die EU-Agenda in der Flüchtlingspolitik umzuschreiben - Abschottung ist seine erste Priorität.

Und Conte gilt als Statthalter des italienischen Innenministers und Rechtsauslegers Matteo Salvini. Schon beim hastig einberufenen Sondergipfel in Brüssel am vergangenen Sonntag hatte das ungleiche Duo den Ton angegeben und die fix und fertig formulierten - Merkel-freundlichen - Schlussfolgerungen gekippt. Nun, beim regulären EU-Gipfel, forderten sie Merkel direkt heraus.

Das zeigte sich schon vor dem offiziellen Start des Gipfeltreffens. Merkel eilte zu einem 40-minütigen Vier-Augen-Gespräch mit Conte, bei dem sich beide gegenseitig ihre Wünsche und Forderungen an den Kopf warfen. Fortschritte gab es dabei offenbar keine, denn wenige Stunden später blockierte Conte die gesamten EU-Gipfel-Beschlüsse - auch jene, die schon "konsentiert" waren und mit dem Migrationsthema nichts zu tun haben.

Bereits am Nachmittag hatte ein italienischer Regierungsvertreter betont, über die Wünsche Merkels zur Migration könne nur dann gesprochen werden, wenn in einem Gesamtpaket auch Italiens Anliegen berücksichtigt würden. Es komme nicht in Frage, nur wegen Merkel über die so genannte "Sekundärmigration" zu sprechen. Conte setzte diese Ansage in die Tat um - und sorgte für eine stundenlange Blockade.

Eine Lösung zeichnete sich zunächst nicht ab. Denn Italien fordert so ziemlich genau das Gegenteil von dem, was Merkel (und auch Seehofer) wollen. Während Deutschland zur europäischen Dublin-III-Verordnung zurückkehren möchte, die Italien und allen anderen Einreiseländern die Erstverantwortung für Asylbewerber zuweist, wollen sich Conte und Salvini von Dublin verabschieden.

Künftig soll gelten, dass jeder Bootsflüchtling, der vor den italienischen Küsten gerettet wird, in der EU ankommt - und nicht nur in Italien. Entsprechend soll auch die gesamte Union Verantwortung übernehmen. Es könne nicht sein, dass die ganze Last nur in den Ankunftsländern liegt, so die Begründung - Solidarität sei keine Einbahnstraße.

Plötzlich musste sich die Kanzlerin, wenn sie ihren Job retten will, nicht mehr nur um die bayerisch-österreichische Grenze kümmern, sondern auch um die Seegrenzen von Italien.

Dabei stand sie zwar nicht allein - Frankreichs nimmermüder Staatschef Emmanuel Macron sprang ihr bei und legte einen Kompromissentwurf vor. Doch gleichzeitig grätschte Kanzler Kurz in Merkels Spiel hinein.

Österreich werde kein bilaterales Rücknahme-Abkommen mit Deutschland schließen, sagte er. Sollte Bayern Asylbewerber an der Grenze abweisen, werde Österreich dasselbe tun. Man kann dies als Unterstützung für Merkel im Streit mit Seehofer werten - aber auch als zweideutige Haltung, mit der sich Kurz alle Optionen offen hält.

Jean-Claude Juncker. Bild: European Union

Einigkeit besteht im Ausbau der Festung Europa

Am Ende war die Gemengelage so kompliziert, dass die gesamte Gipfel-Regie durcheinander geriet. Einigkeit zeichnete sich nur darüber ab, dass die EU ihre Flüchtlingspolitik weiter verschärft und die "Festung Europa" massiv ausbaut. Die Grenzschutzagentur Frontex soll ausgebaut, eine europäische Küstenwache geschaffen werden.

Außerdem sollen Nichtregierungs-Organisationen und ihre Rettungsschiffe von der libyschen Küste verbannt werden. Die Fälle "Aquarius" und "Lifeline", die tagelang für Wirbel gesorgt hatten und die EU-Länder gegeneinander aufbrachten, sollen sich nicht wiederholen. Die Hardliner in Italien und Malta setzten sich in diesem Punkt durch.

Doch das ist noch nicht alles. Auch die längst vergessen und (aus moralischen und praktischen Gründen) verbannt geglaubten Auffanglager für Bootsflüchtlinge in Südeuropa oder Afrika feiern fröhliche Urständ.

EU-Ratspräsident Donald Tusk hatte schon vor dem Gipfel sogenannte Anlandepunkte außerhalb der EU für aus dem Mittelmeer gerettete Bootsflüchtlinge vorgeschlagen. Bei dem Treffen in Brüssel signalisierten neben Merkel und Macron auch mehrere andere Staats- und Regierungschefs Unterstützung. Kurz sagte, die Pläne "änderten alles".

Zwar schränkte die Kanzlerin ein, zunächst müssten direkte Gespräche mit den betroffenen Ländern geführt werden. Dies könne nur zusammen mit der Flüchtlingsorganisation UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration geschehen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker betonte, man könne nichts über die Köpfe der betroffenen Länder hinweg aus Brüssel verkünden - denn das liefe ja auf "Neokolonialismus" hinaus.

Doch besonders glaubwürdig sind diese spät vorgetragenen Bedenken nicht. Schließlich hatte Juncker selbst schon "regionale Ausschiffungs-Plattformen" ins Gespräch gebracht. Und Merkel scheint zu allem bereit, um bilaterale Deals zur Besänftigung Seehofers und zur Rettung ihres eigenen Chefpostens zu erwirken. Sie wirkte bei diesem Gipfel wie eine Getriebene, die sich verzweifelt an den letzten Strohhalm klammert - und dabei auch schon mal die eigenen Grundsätze über Bord wirft.