Frankreich 2017: 85.000 Migranten an den Grenzen zurückgeschickt

Département des Alpes-Maritimes. Bild: Florian Pépellin / CC-BY-SA-2.5

"Wer ohne Papiere erwischt wird, muss sofort zurück" Solide juristische Begründungen spielen bei der Praxis der "non-admission" keine Rolle

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Schengen? Dublin-Regelungen? Was in Deutschland im Streit zwischen CSU-Innenminister Seehofer und CDU-Kanzlerin Merkel an juristischen Kompliziertheiten aufgeblättert wurde, spielt an der Riviera zwischen Frankreich und Italien praktisch überhaupt keine Rolle.

Wer im französischen Küstenort Menton ohne Papiere erwischt wird, muss postwendend zurück nach Italien, berichtete der Deutschlandfunk vor einem Jahr. Die Grenzpolizisten in Frankreich kontrollieren scharf und schicken, "nicht zimperlich", wie die Zeit kürzlich beschrieb, alle zurück, die nicht die nötigen Papiere für die Einreise haben.

"Auch Minderjährige, Schwangere und Alte müssen zurück"

"Refouler" auf Deutsch: "zurückdrängen, abwehren" und "non-admission", die Verweigerung einer Erlaubnis zum Grenzübertritt, heißen die französische Vokabeln zu den deutschen CDU/CSU-Kampfbegriffen der letzten beiden Wochen: "abweisen und zurückschicken". Die Zahlen, die die Politik des Refoulements und der Non-Admission an der Côte d’Azur beschreiben, sind erstaunlich.

Über 40.000 Zurückweisungen an der Côte d'Azur

Zählte man 2015 noch 1.193 nicht erteilte Erlaubnisse zum Grenzübertritt ("non-admission") im französischen Seealpen-Département Alpes-Maritimes in der Nachbarschaft zu Italien, so waren es im Jahr 2017 einige mehr, nämlich 44.433.

Die Zahl stammt vom französischen Innenministerium, danach gefragt hat die Organisation La Cimade, die Migranten unterstützt, und darüber berichtet hat Le Monde. Demnach befinden sich unter den Zurückgewiesenen 13.496 Minderjährige, die laut Gesetz gar nicht zurückgewiesen werden dürften.

Aber wie Dutzende von Reportagen zu Grenzübertritten bzw. -versuchen und Kontrollen an der Küste und in den Bergen dokumentieren, wie zum Beispiel auf Deutsch im eingangs erwähnten Deutschlandfunk-Beitrag, spielen gesetzliche Regelungen und Ansprüche erst dann eine Rolle, wenn es die Migranten auf die Präfektur nach Nizza schaffen oder in das Lager "Roya Citoyenne" des Olivenbauers Cédric Herrou, bei Breil sur Roya.

Wenn sie einmal da sind, dann setze ich sie auf eine Liste mit Asylbewerbern für die Gendarmerie und Präfektur. Dann werden sie nicht mehr nach Italien abgeschoben.

Cédric Herrou, Deutschlandfunk

Im August 2017 wurde Herrou zu einer vier-monatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt, weil er über 200 Migranten beim Grenzübertritt geholfen hatte. Im Mai dieses Jahres erhielt er für seine Unterstützung von Migranten eine Ehrenmedaille der Stadt Grenoble, die von einem grünen Bürgermeister geleitet wird, als politisches Signal gegen die Staatsanwaltschaft.

Das politische Signal des grünen Bürgermeister wird dem italienischen Innenminister Salvini von der rechten Lega nicht gefallen, genauso wenig gefällt ihm allerdings die französische Praxis der Zurückweisung an der Grenzen. Möglich also, dass er die konkreten Aktionen von Cédric Herrou ambivalent beurteilt.

"Europa der konkurrierenden Nationen"

Das "Europa der Nationen", wie es die rechten Wortführer von Wilders und Le Pen bis Salvini anstreben und auf einer Konferenz Anfang letzten Jahres proklamiert und unterstrichen haben, kann in eine eigenartige Konkurrenz geraten, wie es Eric Bonse zum aktuellen EU-Gipfel berichtet (siehe Merkel: Nicht Retterin, sondern Getriebene):

Denn Italien fordert so ziemlich genau das Gegenteil von dem, was Merkel (und auch Seehofer) wollen. Während Deutschland zur europäischen Dublin-III-Verordnung zurückkehren möchte, die Italien und allen anderen Einreiseländern die Erstverantwortung für Asylbewerber zuweist, wollen sich Conte und Salvini von Dublin verabschieden.

Eric Bonse

Im Fall der Zurückweisung der Migranten aus Italien an der französischen Grenze rechnet Salvini vor:

Zwischen dem 1. Januar und dem 31. Mai hat Frankreich 10.249 Personen wieder zurück über die italienische Grenze gebracht, darunter befanden sich Frauen, Kinder und behinderte Menschen.

Matteo Salvini

Salvini macht mit seiner Bemerkung auf die Rechtslage aufmerksam, die Frankreichs Grenzpolitik nicht groß schert. Dort denkt man eben auch zuerst an die eigene Nation, wenn auch Macron beim Drama mit der Aquarius Italien moralische Vorwürfe machte.

Dass Frankreich Italien mit Berufung auf wenig solide juristische Grundlagen - laut dem erwähnten Bericht der Zeit trifft das auch auf das bilaterale Abkommen zu - seit Jahren unsolidarisch behandelt, wird von der Regierung Macron wie schon von den Vorgängerregierungen ignoriert.

Schon im Jahr 2011 errichtete Frankreich trotz Schengen die Grenze zu Italien neu, wie an dieser Stelle berichtet wurde (Frankreich: Grenze zu Italien bei Menton faktisch wiedererrichtet). Damals wollten infolge des Aufstandes in Tunesien viele Migranten aus dem nordafrikanischen Land nach Frankreich, Italien winkte sie durch …

Insgesamt wurden 2017 in Frankreich 85.000 Migranten an den Grenzen zurückgeschickt. Wie auf der dazu gehörigen Karte im Le-Monde-Artikel gut zu sehen ist, wurden an den Grenzen zu Spanien etwa 10.000 Migranten zurückgewiesen.