Hochgeschwindigkeitswahnsinn in Europa

Spanischer Hochgeschwindigkeitszug (AVE) der Renfe-Baureihe 112 von Talgo

(Bild:  Alejandro Navarro López/CC0 )

"Kosten pro eingesparter Minute über 100 Millionen Euro." Das EU-Hochgeschwindigkeitsnetz ist ein teurer und ineffizienter Flickenteppich ohne langfristigen Plan

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"Was gebaut wurde, entspricht einem ineffizienten Flickenteppich aus Strecken der einzelnen Mitgliedstaaten, die nur unzureichend miteinander verbunden sind", ist ein Fazit des Europäischen Rechnungshofs über den Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecken in Europa.

"Europäisches Hochgeschwindigkeitsschienennetz: keine Realität, sondern ein ineffizienter Flickenteppich" lautet der Titel des Berichts, den der EU-Rechnungshof gerade veröffentlicht hat. Untersucht wurden insgesamt zehn inländische Strecken in Spanien, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und Portugal und vier grenzüberschreitende Verbindungen. Analysiert wurden die Ausgaben für etwa 5.000 Streckenkilometer, was etwa die Hälfte des gesamten EU-Hochgeschwindigkeitsnetzes ausmacht.

Der für den Bericht zuständige Oskar Herics stellt den Verantwortlichen insgesamt ein miserables Zeugnis aus. Schon im Jahr 2010 wurden sie aufgefordert, "unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um die technischen, administrativen und sonstigen Hindernisse zu beseitigen, die der Interoperabilität im Schienenverkehr entgegenstehen".

Doch nun stellt der Rechnungshof fest, "dass diese Hindernisse im Jahr 2018 immer noch vorhanden sind". Herics kritisiert: "Hochgeschwindigkeitsstrecken, welche die Staatsgrenzen überschreiten, zählen nicht zu den Prioritäten bei den Bauvorhaben der einzelnen Mitgliedstaaten, und der Kommission fehlen die Befugnisse, diese Projekte durchzusetzen. Das bedeutet, dass mit der EU-Kofinanzierung ein geringer europäischer Mehrwert erzielt wird."

Milliarden flossen, aber das Ziel ist weit entfernt

Gemäß diesem Bericht hat der langfristige EU-Plan für den Hochgeschwindigkeitsschienenverkehr wohl keine Chancen mehr, tatsächlich verwirklicht zu werden. Es gäbe keinen tragfähigen EU-weiten strategischen Ansatz.

Im Bericht wird ausgeführt, dass seit dem Jahr 2000 fast 24 Milliarden Euro an direkten Hilfen und zudem fast 30 Milliarden Euro an Krediten durch die Europäische Investitionsbank (EIB) geflossen sind, um diesen sehr teuren und ineffizienten Flickenteppich zu schaffen.

Dank einer mangelnden grenzübergreifenden Planung und Koordinierung würden Strecken meist nur isoliert geplant und gebaut. Als Ergebnis kommen dann auch noch schlechte Verbindungen heraus. Auch wenn die "Länge der Hochgeschwindigkeitsnetze in den einzelnen Mitgliedstaaten" wachse, wird das EU-Ziel, "bis 2030 die Länge der Hochgeschwindigkeitsstrecken (auf 30.000 km) zu verdreifachen, voraussichtlich nicht erreicht", stellt der EU-Rechnungshof fest.

Seine Kritik ist vielseitig. So verzögerten sich die Bauvorhaben zum Teil erheblich, während die realen Kosten dann deutlich über denen liegen, die veranschlagt wurden. Beides sei nicht die Ausnahme, sondern die Norm.

Höchstgeschwindigkeiten werden weit verfehlt

Bei der Hälfte der geprüften inländischen Strecken "waren Verzögerungen von mehr als 10 Jahren zu verzeichnen". Und auch damit laufen erhebliche Mehrkosten auf. Die Kostenüberschreitungen insgesamt beliefen sich für die geprüften Projekte und Strecken auf 5,7 Milliarden Euro auf Projektebene bzw. 25,1 Milliarden Euro auf Streckenebene.

Kritisiert wird auch, dass die versprochenen Höchstgeschwindigkeiten meist nicht erreicht werden. "In vielen Fällen" verkehrten die Züge derzeit auf besonders schnellen Hochgeschwindigkeitsstrecken mit Durchschnittsgeschwindigkeiten, die "mit nur 45% der Höchstgeschwindigkeit" nicht einmal die Hälfte der Geschwindigkeiten erreichen, für die diese Strecken eigentlich ausgelegt sind.

Zudem beruhten die Entscheidungen für den Bau von Hochgeschwindigkeitsstrecken "oftmals auf politischen Erwägungen, und Kosten-Nutzen-Analysen werden nicht systematisch eingesetzt, um Grundlagen für Entscheidungen zu schaffen, bei denen die Kosteneffizienz berücksichtigt wird".

Ein Kilometer kostet den Steuerzahler 25 Millionen Euro

Bis Ende 2017 seien bisher 9.000 Streckenkilometer fertiggestellt und weitere 1.700 befinden sich in der Bauphase. Der Frage aber, ob das EU-Ziel überhaupt realistisch und überhaupt erstrebenswert ist, weicht der Rechnungshof aus. Dabei drängt sich diese Frage auf, wenn man sich die fatalen Aussagen über die untersuchten Strecken anschaut.

Schließlich stellt auch der Rechnungshof fest, dass "Infrastruktur für Hochgeschwindigkeitsstrecken teuer" ist. Denn durchschnittlich kostet ein Kilometer den Steuerzahler 25 Millionen Euro. "Bei vier der 10 geprüften Strecken werden sich pro eingesparter Minute Fahrzeit Kosten von mehr als 100 Millionen Euro ergeben."

Die eingesparte Minute Stuttgart-München: 369 Millionen Euro

Am höchsten fällt dieser Wert für die Strecke Stuttgart-München aus, "wo sich die Kosten pro eingesparter Minute auf 369 Millionen Euro belaufen werden.“ Steht das in einem realen Verhältnis?

Das bezweifelt auch der EU-Rechnungshof, weshalb er als "alternativen Lösung" vorschlägt, "bestehende herkömmliche Strecken aufzurüsten", womit "Einsparungen in Milliardenhöhe" möglich werden. Das drängt sich praktisch auf, da ohnehin längst festgestellt wurde, dass kaum eine Hochgeschwindigkeitsstrecke rentabel ist.

Gemäß einer früheren Studie galt das in Europa insgesamt sogar für nur eine Strecke.

Nötig wären neun Millionen Fahrgäste

Der Rechnungshof führt jetzt aus, dass auf einer Hochgeschwindigkeitsstrecke neun Millionen Fahrgäste pro Jahr befördert werden müssten, damit sie erfolgreich sein könne. "Auf drei der sieben vom Hof geprüften fertiggestellten Strecken war die Anzahl der beförderten Fahrgäste jedoch wesentlich niedriger."

Insgesamt fällt das Fazit nahezu vernichtend aus. Bei "neun der 14 geprüften Strecken und grenzübergreifenden Verbindungen war die Anzahl an potenziellen Fahrgästen innerhalb ihres Einzugsgebiets nicht hoch genug, als dass sie erfolgreich sein könnten." Warum also an dem wahnsinnigen Ziel festhalten, die Hochgeschwindigkeitsstrecken auf 30.000 Kilometer auszubauen?

Besonders krass: Spanien

Besonders krass ist die Lage, wie Telepolis schon mehrfach festgestellt hat, beim Vizeweltmeister der Hochgeschwindigkeit. Nach Spanien ist mit 11,2 Milliarden Euro fast die Hälfte der gesamten direkten Hilfen für die gesamte EU geflossen.

Dort hat erst vor kurzem überhaupt damit begonnen, die Rentabilität auch nur zu untersuchen. Das Land hat allein mehr Beihilfen erhalten, als die drei großen Länder Frankreich, Deutschland und Italien zusammen.

Bekannt ist, dass Bauvorhaben besonders korruptionsanfällig sind. Und Korruption hat gerade erst dazu geführt, dass die Regierung gestürzt wurde, da sich die Volkspartei (PP) Jahrzehnte über Schmiergelder illegal finanziert hat.

Allerdings taucht der Begriff "Korruption" auf den 103 Seiten des Berichts nicht einmal auf. Dabei dürfte sie in Spanien eine besondere Bedeutung dabei gespielt haben, dass sich das Land diesen großen Flickenteppich leistet und Spanien sich nach China das zweitlängste Hochgeschwindigkeitsnetz weltweit leistet.

Anders als zwischen anderen europäischen Ländern ist der Flickenteppich nicht einmal mit einem Nachbarland verbunden. In Spanien leistet man sich zudem sogar diverse isolierte Hochgeschwindigkeitsstrecken. Eine Strecke musste sogar wieder aufgegeben werden, weil sie durchschnittlich pro Tag von nur neun Personen genutzt wurde.

Ein Problem Spaniens ist aber auch, dass sowohl Frankreich und auch Portugal die unrentablen spanischen Strecken aus Spargründen hängen gelassen haben. Allerdings würde auch die Anbindung des spanischen Netzes an Frankreich kaum eine Verbesserung bringen, stellt nun auch der Rechnungshof fest.

Denn auch die Anbindung am Mittelmeer in Katalonien oder im Baskenland bringe im Einzugsgebiet nicht die nötige Zahl an potenziellen Fahrgästen auf, um erfolgreich sein zu können. Im Baskenland kommt erschwerend hinzu, dass hier gerade mit dem baskischen Y erneut eine Insel entsteht, die weder in Spanien noch in Frankreich mit dem Hochgeschwindigkeitsnetz verbunden ist.

Die Alpenstrecke "wird sich nie rechnen"

Ganz ähnlich schätzt der Bericht auch die Lage der Strecke von München nach Verona ein. Die Verzögerung summiert sich hier schon auf 11 Jahre, die Kosten sind schon von sechs auf mindestens 10 Milliarden explodiert, womit sie vermutlich sogar insgesamt noch teuer kommen wird als die spanische Strecke zwischen Madrid und Barcelona.

Die kostete letztendlich gut 12 Milliarden Euro und die Kosten lagen fast 40% über den geplanten Ausgaben. Statt durchschnittlich 25 Millionen kostet die Verbindung über und durch die Alpen wegen der komplizierten Geologie sogar 145 Millionen Euro pro Kilometer.

Der Rechnungshof geht davon aus, dass diese Strecke wohl erst 2040 fertiggestellt wird, da es in Deutschland kaum Bautätigkeit gäbe und es für diese Verbindung über Österreich nach Italien "überhaupt keine Priorität" gäbe. Und auch hier stellt der Rechnungshof fest, dass sich die Strecke vermutlich wegen geringer Passagierzahlen vermutlich nie rechnen wird.