Hilfe für Migranten: "Brüderlichkeit" und öffentliche Ordnung

Eingang zum Verfassungsrat, Paris. Foto: Mbzt / CC BY 3.0

Der französische Verfassungsrat tritt für die "Freiheit ein, anderen zu helfen, mit einem humanitären Ziel, wenn dies ohne Gegenleistung geschieht", ungeachtet dessen, ob der Aufenthalt im Land irregulär ist

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Die Gereiztheit, die aufkommt, wenn die Begriffe "Hilfe" und "Migranten" zusammengebracht werden, ist, wie pars pro toto das Telepolis-Forum zum Interview mit Jana Ciernioch vom Verein SOS Mediterranee heute aufs Neue dokumentiert, beachtlich.

Die zum Teil theatralische Aufladung der Spannungen, die sich etwa dadurch anzeigt, dass Kommentare ihre Einwände mit "Pfui" einleiten, ist ein europaweites Phänomen; es gehört zu einem Kulturkampf, der auch in Frankreich zu beobachten ist. Auch dort wird in gereizter Tonlage diskutiert.

Daher darf man gespannt sein, welche Tragweite eine Entscheidung des französischen Verfassungsrats zum Komplex "Hilfe für illegale Migranten" haben wird, die am vergangenen Freitag veröffentlicht wurde.

Der Rang der "Brüderlichkeit"

Kurz und grobkörnig zusammengefasst stärkt die Entscheidung des Conseil die verfassungsmäßige Stellung der Hilfe für Migranten. Und dies ungeachtet dessen, ob die Migranten illegal eingereist sind. Wichtig ist, dass die Hilfe - in Abgrenzung zur Schlepper - oder Schleusertätigkeit - ohne Gegenleistung erfolgt. Die dazu gehörige Schlüsselstelle dazu in der Entscheidung der Verfassungswächter lautet:

Zum ersten Mal hat der Verfassungsrat geurteilt, dass die Brüderlichkeit ein Prinzip mit Verfassungswert ist. Dafür bezieht er sich er an den Artikel 2 der Verfassung: Die Devise der Republik heißt: "Liberté, Égalité, Fraternité". Auch erwähnt die Verfassung das gemeinschaftliche Ideal der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit im Vorwort und im Artikel 72-3. Aus diesem Prinzip leitet der Verfassungsrat die Freiheit ab, einem Anderen zu helfen, mit einem humanitären Ziel, ohne dass die Ordnungsmäßigkeit des Aufenthalts des Anderen auf dem nationalen Territorium in Betracht gezogen wird.

Pressemitteilung des Conseil constitutionnel

Konkrete Folge dieser Entscheidung ist, dass aus einem Gesetz über die "Hilfe zur Einreise und unrechtmäßige Aufenthalte" der Ausdruck "unrechtmäßiger Aufenthalt" gestrichen werden soll. Es geht dabei um die Gesetze L622-1 und L622-4, die mit der Hilfe zur Einreise und dem illegalen Aufenthalt befasst sind.

Gesetze gegen Schleuserwesen und Ausnahmen von Bestrafungen

Der erstgenannte Art. L.622-1 verfügt robuste Strafen für Personen, "die durch direkte oder indirekte Hilfe die illegale Einreise, den illegalen Transport ('circulation') oder den illegalen Aufenthalt einer ausländischen Person in Frankreich erleichtert oder zu erleichtern versucht, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 5 Jahren oder mit einer Geldbuße von bis zu 30 000 Euro bestraft wird" (Übersetzung: blog.nccr).

Der zweitgenannte Art.L622-4 nennt die Ausnahmen für die Strafe: So zum Beispiel, wenn es um Familienmitglieder geht, aber eben auch, wenn es für die "vorgeworfene Tat weder eine direkte noch eine indirekte Gegenleistung gibt und sie (die vorgeworfene Tat, Einf. d.A.) darin besteht, dass juristische Ratschläge gegeben werden, Hilfe bei der Unterkunft und Ernährung oder medizinische Unterstützung geleistet wird, die zum Ziel haben, dass der oder die Fremde eine würdevolles Leben führen kann, oder eine andere Hilfe, die zum Ziel hat die Würde und körperliche Unversehrtheit des Fremden zu erhalten" (Übersetzung d. A.).

Forderung nach stärkerer gesetzlicher Unterstützung der "Solidarität"

Verschiede Hilfsorganisationen hatten beim Verfassungsrat gegen die Gesetzgebung Einspruch erhoben, weil, so zitiert sie Le Monde, damit "viele Formen der Solidarität ausgeschlossen" würden.

Der Streitbegriff dazu lautet "Delikt der Solidarität" und enthält den Vorwurf, dass der Gesetzgeber ein Verhalten bestraft, das letztendlich auf Solidarität gründet. Aufgekommen ist der Begriff angeblich schon 1995 durch eine Gruppe, die Migranten unterstützt: Groupe d’information et de soutien des immigrés (Gisti).

Im Mai 2003 gab es dazu ein Manifest, in dem erklärt wird, dass man Fremden geholfen haben, die sich illegal in Frankreich aufhalten und dass man fest entschlossen sei, diese Hilfe fortzusetzen. Am Ende kommt der Schlüsselsatz, der zum polemischen Begriff "Delikt der Solidarität" für Aktivitäten geführt hat, die von der einen Seite als Hilfe verstanden werden und von staatlicher Seite als Straftat: "Wenn die Solidarität ein Delikt ist, dann verlange ich, dass ich für dieses Vergehen verfolgt werde", heißt es im Manifeste des délinquants de la solidarité.

Aus Sicht der zivilen Organisationen und Personen, die sich diesem Manifest angeschlossen haben oder ihm nahestehen, bedeutet die Entscheidung der Verfassungswächter viel Rückenwind, weil die Solidarität über den Rückgriff auf den traditionellen Begriff der Brüderlichkeit aus der französischen Revolution und der ersten Republik sehr hoch veranschlagt wird. Wie sich das dann im Streit darüber, ab wann NGOs oder andere Hilfsorganisationen dem kriminellen Schleusergeschäft zuarbeiten, bemerkbar machen wird, wird sich erst zeigen.

Für den Gesetzgeber haben die Verfassungsweisen die oben angedeutete Auflage gemacht, bis zum 1. Dezember dieses Jahres das Gesetz zu ändern, das ab diesem Zeitpunkt in der bisherigen Form außerkraft gesetzt wird.

Verfassungsrat: Keine Unterstützung für illegale Einreise von Migranten

Allerdings betont der Verfassungsrat auch, dass seine Entscheidung keine Unterstützung für die illegale Einreise von Migranten sein soll und auch nicht in die Befugnisse des Gesetzgebers eingreifen will oder kann.

"Der Kampf gegen die illegale Einwanderung gehört zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, das ist ein Ziel mit Verfassungsrang, der Verfassungsrat urteilt, dass es dem Gesetzgeber obliegt, die versöhnliche Balance zwischen dem Prinzip der Brüderlichkeit und der Erhaltung der öffentlichen Ordnung sicherzustellen."

Initiiert wurde die Entscheidung des Verfassungsrates durch zivilrechtliche Organisationen und Cédric Herrou, der in der Nähe der französisch-italienischen Grenze Migranten aus Italien hilft, die irregulär über die Grenze gekommen sind, weswegen er bereits gerichtlich verurteilt wurde.

Wie nun nach der Entscheidung des Verfassungsrats die Bestrafung von Hilfen für illegal eingereisten Migranten geregelt wird, ist noch offen.