Einsam vor Gott: Godard, die Nouvelle Vague und die Verantwortung der Kunst

Le mépris

Die Nacht der Verachtung, Teil 2

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Teil 1: Jean-Luc Godard, Brigitte Bardot und eine Lampe im Lichte der #MeToo-Debatte

Manchmal müssen klare Worte her. Das dachte sich auch der britische Kritiker Colin McCabe, als er Jean-Luc Godards Le mépris 1996 in Sight & Sound zum größten Kunstwerk erklärte, das im Nachkriegs-Europa geschaffen worden sei. Darüber lässt sich sehr anregend debattieren. In jedem Fall bleibt festzuhalten, dass Die Verachtung unverkennbar ein Werk der Nachkriegszeit ist und auf eine Vergangenheit reagiert, die damals, 1963, noch sehr stark im allgemeinen Bewusstsein war. Godard stellt sich der Frage, welche gesellschaftliche Verantwortung der Kunst sich aus den "horrible years" (Fritz Lang in Le mépris) ergibt. Das eint ihn mit seinen Kollegen von der Nouvelle Vague.

Die Meinungen darüber, wie lange die Nouvelle Vague dauerte, gehen auseinander. Am strengsten ist man in Frankreich selbst. Dort wird gern der Zeitraum von 1958 bis 1962 genannt, in dem rund hundert junge Leute ihren ersten Film drehten, und oft den letzten. 1963 waren viele wieder von der Bildfläche verschwunden und andere, der Not gehorchend, zum Fernsehen abgewandert. Für den Schluss kämen auch die Jahre 1965/66 in Frage, in denen Godard mit Pierrot le fou und Made in U.S.A. seinen furiosen Abschied vom amerikanischen Kino inszenierte sowie von Anna Karina, seiner Frau und Muse.

Irgendwann vor dem Mai 1968 jedenfalls, darüber besteht weitgehend Einigkeit, war es vorbei mit der "Neuen Welle". Nur Nostalgiker versuchen, das Ende weiter hinauszuschieben, bis in den Mai oder Juni 1973. Godard schrieb Truffaut damals einen Brief, durch den es zum Bruch zwischen den beiden kam und der Filmliebhaber schockierte, als er 1988 (zusammen mit Truffauts ausführlicher Antwort) öffentlich wurde. Die zerbrochene Freundschaft war danach nicht mehr zu kitten. Der Nouvelle Vague - falls zu der Zeit noch existent - kam damit ein Kraftzentrum abhanden, dessen Verlust sich nicht kompensieren ließ.

Bei dem Zerwürfnis ging es in erster Linie um die Unabhängigkeit der Kunst und um gesellschaftliche Verantwortung, nicht um auf dem roten Teppich zu tragende Mode-Accessoires, Sexismus und das Versorgen des Publikums mit schmierigen Details von der Besetzungscouch. Die erotischen, sie nach Ansicht Godards korrumpierenden Bedürfnisse bestimmter Regisseure spielten durchaus eine Rolle, aber zum Rendezvous mit Jacqueline Bisset kommen wir, wenn es soweit ist. Jetzt erst die Neue Welle, deren Vorgeschichte damit beginnt, dass ein präpotenter junger Mann namens François Truffaut Filmkritiker wird. Das war in den frühen 1950ern.

Heikle Traditionspflege

In Truffauts Leben war auf eine schwierige Kindheit und Jugend (mit Aufenthalt in einer Besserungsanstalt) eine nicht minder schwierige Zeit als Soldat gefolgt (mit Aufenthalt im Militärgefängnis von Andernach und unehrenhafter Entlassung aus der Armee). Dann schlug ihm sein väterlicher Freund und Mentor André Bazin vor, für die 1951 von Bazin, Jacques Doniol-Valcroze und Joseph-Marie Lo Duca gegründete Zeitschrift Cahiers du cinéma zu schreiben. Als Rebell gegen Traditionen und Autoritäten machte sich Truffaut daran, mit "Papas Kino" abzurechnen, in Frankreich auch als "Qualitätsfilm" bekannt.

Francois Truffaut. Bild: Jack de Nijs / Anefo / CC0 1.0

"Zeit der Verachtung", wie das umfängliche, in moralisierendem Ton verfasste und nicht mit persönlichen Angriffen sparende Pamphlet zunächst heißen sollte, war ein Rundumschlag gegen so ziemlich alles, was als gutes französisches Kino galt und vor dem sich die Mehrzahl der Kritiker ehrfürchtig verneigte, weil es sich brav an Konventionen hielt. Hintergrund ist das Blum-Byrnes-Abkommen von 1946, benannt nach den Chefunterhändlern Léon Blum auf französischer und James F. Byrnes auf amerikanischer Seite.

Die USA erklärten sich bereit, Frankreich die überwiegend noch aus der Zeit des Ersten Weltkriegs stammenden Kriegsschulden zu erlassen (das sind die Schulden, gegen die Präsident Hammond wettert, der Proto-Trump in Gabriel Over the White House) und neue Kredite zu gewähren. Im Gegenzug öffnete Frankreich seine Märkte für amerikanische Produkte, insbesondere für Filme aus Hollywood. Die Franzosen verzichteten darauf, zum System der Vorkriegszeit zurückzukehren, als es zum Schutz der heimischen Industrie eine jährliche Quote für ausländische Produktionen gegeben hatte.

Die neue vierteljährliche Kontingentregelung sah vor, dass jeweils vier von 13 Wochen für französische Filme reserviert wurden. In den übrigen neun Wochen eines Quartals durften die Kinos abspielen was sie wollten. In Hollywood hatten sich seit dem 1940 von den deutschen Besatzern erlassenen Aufführungsverbot für Produktionen aus Nicht-Achsenländern ein paar tausend Filme angestaut, mit denen die Amerikaner jetzt den französischen Markt überschwemmten. Die französische Filmindustrie, in der Okkupationszeit eine der wichtigsten Arbeitgeberinnen des Landes, stürzte das in eine tiefe Krise.

Nach öffentlichen Protesten und einer Großdemonstration der Filmschaffenden im Januar 1948 wurde die Kontingentregelung im September 1948 von der Nationalversammlung gekippt, wieder eine jährliche Quote für ausländische Produktionen eingeführt und außerdem auf jede verkaufte Eintrittskarte eine Steuer zur Unterstützung der französischen Filmindustrie erhoben. So zahlten auch die Hollywoodstudios in den Topf mit dem Geld ein, das vom 1946 etablierten Centre national de la cinématographie (CNC) an heimische Produzenten weitergereicht wurde.

Die Amerikaner wollten nicht nur einen möglichst freien Zugang für ihre Produkte durchsetzen, weil das wirtschaftliche Vorteile brachte. Angesichts des sich abzeichnenden Kalten Krieges sollte auch der American Way of Life propagiert werden. Bei einem Teil der Franzosen, nicht zuletzt im Establishment, weckte das die Angst vor einer kulturellen Überfremdung. Das im Ministerium für Kultur angesiedelte CNC begegnete der befürchteten Amerikanisierung, indem es vorzugsweise Filme förderte, die "typisch französisch" waren.

Mit der Definition des typisch Französischen tat man sich ähnlich schwer wie jetzt die CSU bei ihrem aus der Landwirtschaft übernommenen Konzept von der Leitkultur. Besonders gern gefördert wurden Produktionen, die sich irgendwie französischen Stoffen widmeten (oder was man eben dafür hielt), französische Stars hatten, auf zum Kanon der französischen Literatur gezählten Werken basierten und die eine oder andere Tradition fortführten. Letzteres war insofern heikel, als der französische Nachkriegsfilm bemüht war, an den poetischen Realismus der 1930er anzuknüpfen, ohne verleugnen zu können, dass das nicht alles war.

Die Okkupationszeit war durchaus prägend gewesen und nicht einfach abzuschütteln. Die personellen Kontinuitäten waren ohnehin offensichtlich. Viele von denen, die nach 1945 Filme drehten, hatten das auch unter deutscher Besatzung gemacht und lernten ihr Handwerk nicht völlig neu, als die Deutschen nicht mehr da waren. Da Truffaut gegen eine französische "tradition de la qualilté" polemisierte, die mehr beinhaltete als nur die glorreichen 1930er und deren Fortsetzung in den Nachkriegsjahren, schwang zwischen den Zeilen der Vorwurf der Kollaboration mit den Nazis mit.

Autant-Lara und die Phantome

Bazin war das Pamphlet zu heftig. So wollte er es nicht drucken. Er forderte Truffaut auf, den Text zu straffen, nicht ganz so wild zu polemisieren und in der Zeit, die er für die Überarbeitung brauchte, über aktuelle Filme zu schreiben und so an seinem Stil zu feilen. Truffaut wurde rasch zum viel gelesenen Kritiker, gefürchtet wegen der Schärfe seiner Urteile. Sein Lieblingsfeind war Claude Autant-Lara, der unter den deutschen Besatzern einige ebenso elegante wie eskapistische Ausstattungsfilme gedreht hatte, was man ihm als Beitrag zur Stabilisierung eines Unterdrückungssystems auslegen konnte.

Sichtbarer Ausdruck von Kontinuitäten, mit denen man sich in Frankreich nicht mehr beschäftigen wollte, war der in der Okkupationszeit begonnene, aber erst 1946 in die Kinos gekommene Sylvie et le fantôme (Jacques Tati spielt den Geist). Nach dem Krieg erlebte Autant-Lara mit Filmen wie Die rote Herberge (1951), Rot und Schwarz (1954) und Mit den Waffen einer Frau (1958, mit Brigitte Bardot) sehr produktive Jahre. Als seine Karriere schließlich ins Stocken geriet gab er die Schuld einer "jüdischen Verschwörung", zu der er - trotz fehlender Juden - auch die Nouvelle Vague zählte.

Sylvie et le fantôme

1989 zog Autant-Lara für den Front national seines Freundes Jean-Marie Le Pen in das Europaparlament ein. Das Mandat musste er bald niederlegen, weil er als Alterspräsident (geboren 1901) eine Eröffnungsrede hielt, in der er die Gaskammern zur Lüge der jüdischen Verschwörer erklärte und der Holocaust-Überlebenden Simone Veil vorwarf, von dieser Lüge zu profitieren. Um den peinlichen Auftritt schnell vergessen zu können wurde er unter "Wirres Gerede eines verbitterten alten Mannes" abgehakt. Das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er in einer Tradition stand, die zurück in das besetzte Frankreich und zum in Kollaborateurskreisen gepflegten Antisemitismus führt.

Aus dem Umfeld von Marcel Déat kam 1943 das Pseudo-Dokudrama Forces occultes. In der fast ausschließlich als "unpolitische Unterhaltung" verkauften Filmproduktion der Okkupationszeit sticht "Dunkle Mächte" dadurch hervor, dass das zumeist in kleineren Zirkeln und vor Multiplikatoren gezeigte Werk offen propagandistisch ist. Man erfährt, dass die jüdischen Weltverschwörer mit den Freimaurern unter einer Decke stecken. Geboten wird ein Sammelsurium von kruden Thesen, die seither von Demagogen wie Jean-Marie Le Pen unters Volk gebracht und ständig neu aufgewärmt werden, mit wechselndem Personal (je nachdem, wer sich gerade als Sündenbock eignet).

Marcel Déat trat für die Kollaboration mit den Nazis ein, träumte von einem von Frankreich und Deutschland geführten Europa und gründete 1941 die antisemitische Partei Rassemblement national populaire (Nationale Sammlung des Volkes). Lässt man "populaire" weg hat man den neuen Namen des Front national: Rassemblement national (in rassemblement steckt auch der Aufmarsch drin). Die Umbenennung ist Teil einer Strategie, mit der Marine Le Pen den Front entdämonisieren und bürgerliche Wähler ansprechen will, die der Antisemitismus ihres Vaters abstößt. Hat Marine also im Geschichtsunterricht nicht aufgepasst oder will sie alten Kameraden signalisieren, dass man sie nicht vergessen hat?

Die von Autant-Lara beklagte Unterwanderung des französischen Qualitätsfilms durch die Nouvelle Vague und das Weltjudentum erlebte Déat nicht mehr mit. In Abwesenheit zum Tode verurteilt, verschied er 1955 in einem Karmelitenkloster in Italien, wo ihn die frommen Schwestern freundlich aufgenommen und versteckt hatten. Und wie kommt man von da zurück zum Kino und zu Jean-Luc Godard? Über den Journalisten François Brigneau beispielsweise, früher Mitglied in Déats alter Antisemitenpartei und 1972 ganz vorne mit dabei, als der Front national gegründet wurde, mit Jean-Marie Le Pen als Parteichef (mit dem sich Brigneau bald danach überwarf).

Als Brigneau 2012 starb war er unter Frankreichs Rechtsradikalen eine legendäre Figur. Das verdankte er jahrzehntelangen politischen Aktivitäten und der Tatsache, dass er nach der Befreiung von den Nazis zusammen mit Robert Brasillach inhaftiert gewesen war. Brasillach ist eine Art Heiliger und ein Märtyrer der französischen Rechten. Niemand konnte so anrührende und heroische Anekdoten über ihn erzählen wie Brigneau, der ihn seinen Mentor und "großen Bruder" nannte. Brasillach war ein begabter Autor. Leider verfasste er nicht nur Romane und Gedichte.

Für Brasillach war der Nationalsozialismus die "Poesie des 20. Jahrhunderts". Als Chefredakteur des antisemitischen Hetzblattes Je suis partout (Ich bin überall) veröffentlichte er die Klarnamen von Résistance-Kämpfern und von untergetauchten, unter falscher Identität lebenden Juden, mit Angabe von Straße und Hausnummer. Im Februar 1945 wurde er als Kollaborateur hingerichtet, obwohl sich viele Schriftstellerkollegen - auch solche, die unbelastet waren - für seine Begnadigung eingesetzt hatten. Bald danach begannen die Bemühungen, ihn zu rehabilitieren. Die Rechten verklärten ihn als Opfer einer politischen Säuberungswelle, hinter der jüdisch-kommunistische Verschwörer steckten.

Histoire du cinéma ( Ausgabe von 1942 und zwei Ausgaben von 1964)

Einen ersten Höhepunkt erreichte der Brasillach-Kult im Sommer 1963, als Godard Le mépris drehte. Eine Luxusausgabe von Brasillachs Gesamtwerk war trotz des stolzen Preises von 700 Francs rasch ausverkauft. In Frankreich sorgte das für heftige Debatten. Diskutiert wurde auch über die Verantwortung des Films und der Filmkritik. Brasillach hatte selbst Kritiken geschrieben und zusammen mit seinem Schwager, dem Rechtsintellektuellen Maurice Bardèche, eine Geschichte des Kinos. Eine erweiterte, nun zweibändige Neuauflage der Histoire du cinéma war bereits angekündigt und Bardèche inzwischen der führende Vertreter eines Revisionismus, der versuchte, die Kollaboration zu relativieren.

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