Griechenland gelähmt von der Brandkatastrophe

Brand in Mati. Bild: W. Aswestopoulos

Nahezu sämtliche öffentliche Diskussionen drehen sich um die verheerenden Brände, die politische Verantwortlichkeit, die Sparpolitik und die Konsequenzen

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Seit dem Montag, dem 23. Juli ist die Zeit in Griechenland stehen geblieben. Drei Viertel der täglichen Nachrichtensendungen drehen sich nur um dieses Thema (Waldbrände in Griechenland). Täglich gibt es im Fernsehen Sondersendungen. Die aktuelle Zahl der Toten wird mit 80 bestätigten und identifizierten Leichen, sowie mit acht weiteren Vermissten angegeben. Noch am Montagmorgen wurde im Meer westlich von Athen ein Todesopfer gefunden, welches aufgrund der Verbrennungen dem katastrophalen Brand im Osten Attikas zugerechnet werden könnte, sobald die Obduktion abgeschlossen ist.

Die Toten der Brandkatastrophe von Mati beherrschen die Agenda

Nahezu sämtliche öffentliche Diskussionen drehen sich nur um die verheerenden Brände, die im Großraum der Hauptstadt, knapp 30 km vom Zentrum Athens entfernt, eine immer noch nicht endgültig bestimmte Zahl von Todesopfern gefordert haben. Die Opposition verlangt Rücktritte, die Alexis Tsipras als Premierminister mit dem Verweis auf seine politische Verantwortung verweigert.

Oppositionsführer Kyriakos Mitsotakis erklärt dagegen, dass es ohne einen Rücktritt keine Übernahme politischer Verantwortlichkeit geben könnte. Staatsminister Christoferos Bernadakis bemerkt, dass, wenn alle Verantwortlichen zurücktreten müssten, dies ein Drittel der Abgeordneten des Parlaments betreffen würde - er schließt dabei die Opposition mit ein. Man solle nicht so sehr auf Tsipras einschlagen, meint Bernadakis, schließlich sei dieser "nur vierundvierzig Jahre alt". Er möchte damit darauf verweisen, dass viele der Probleme, die zur Katastrophe führten, von den früher regierenden jetzigen Oppositionsparteien Nea Dimokratia und der sozialdemokratischen Bewegung um die PASOK verursacht wurden. Bernadakis vergisst allerdings, dass mit Bürgerschutzminister Nikos Toskas, Infrastrukturminister Christos Spirtzis, Verteidigungsminister Panos Kammenos, Marineminister Panagiotis Kouroublis frühere Spitzenpolitiker von PASOK und Nea Dimokratia nun in der SYRIZA/Unabhängige Griechen Regierung an den Schlüsselpositionen der aktuellen Katastrophe sitzen.

Statt innerhalb der eigenen Reihen nach Verantwortlichen zu suchen, lässt die Regierung nichts unversucht, um die ihr bekannte Wahrheit zu verschleiern. Dabei wird die Schuld am Desaster auch den Opfern selbst zugeschoben. Nur häppchenweise kommt zutage, dass Tsipras bereits frühzeitig von den Todesopfern gewusst haben muss, dies aber der Bevölkerung bei seinen Ansprachen verheimlichte. "Todesopfer sind erst amtlich, wenn der Gerichtsmediziner den Totenschein ausstellt", ließ Vizegesundheitsminister Pavlos Polakis die Bevölkerung wissen.

Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft mit Sonderkommissionen, um die Vorgänge aufzuklären und Verantwortliche zu identifizieren.

Eine Verkettung von Pleiten, Pech, Pannen und Kompetenzstreitigkeiten

Griechenland gehört zu den wenigen Mitgliedern des Nordatlantischen Verteidigungspakts, die ihr aus den Verträgen resultierendes Soll an Rüstungsausgaben erfüllen. Dies wurde auch in der seit 2009 offen zutage getretenen Krise der Staatsfinanzen beibehalten. Anders als die Rüstungsabgaben, fielen Ausgaben für den Katastrophenschutz regelmäßig, sprich bei fast jeder Inspektion der Kreditgeber, dem Rotstift zum Opfer.

Bei den Streichungen wurde der Rotstift anhand statistischer Schätzungen und nicht realer Begebenheiten eingesetzt. So ist es zum Beispiel bezeichnend, dass die Insel Euböa vor der Troika über drei Krankenhäuser verfügte. Die Troika entschied, dass die 121 Kilometer von Chalkida nach Karystos keine so große Strecke sei, um das Krankenhaus in Karystos weiter zu betreiben. Es wurde ebenso wie das Krankenhaus in Kymi geschlossen. Ein Krankenwagen braucht indes für die kurvenreiche Enge Straße mindestens zwei Stunden Fahrt, was für Hin- und Rückfahrt zur Abholung eines Kranken aus Karystos dann mehr als vier Stunden Fahrt kostet.

Bei den unbefestigten Straßen zu den Dörfern um Karystos sieht die Situation dann noch schlimmer aus. Hier sind stellenweise für zehn, zwanzig Kilometer Strecke Zeiten von bis zu einer Stunde nötig. Das Krankenhaus von Kymi war vor seiner Schließung auch für die Insel Skyros zuständig. Ein Einzugsbereich von 60.000 ständigen Einwohnern wurde bei der Ausgabenstreichung schlicht vom Zugang zu Krankenhäusern abgetrennt. Wie sonst soll man die im Extremfall notwendigen fünf Stunden Reise (bei gutem Wetter) zum nächsten Krankenhaus bewerten? In der Tourismusperiode vervielfacht sich die Bevölkerung allein auf der Insel Skyros von 4000 auf 20.000 bis 30.000 Menschen. Als die Krankenhäuser geschlossen wurden, beschuldigte der jetzige Agrarminister Vangelis Apostolou die damalige Regierung Samaras, die Bürger unabwägbaren Risiken auszusetzen. Nun vertritt der Euböer selbst als SYRIZA-Minister die damals verteufelte "alternativlose Politik".

Die Einweihung eines lange geplanten und gebauten Neubaus des bereits vor der Krise überlasteten Krankenhauses in Chalkida, mithin die Grundlage für die Streichung der beiden anderen, ist immer noch nicht betriebsbereit. Das alte Krankenhaus muss zusätzlich zur Inselbevölkerung auch noch die benachbarten Städte Böotiens, Thiva und Livadia, versorgen. Mit der gleichen Logik wurden die noch komplexer zu erfassenden Feuerwehrinfrastrukturen abgebaut und zusammengefasst.

Schließlich, so hieß es in neoliberale Politik propagierenden Medien, würden die Feuerwehrleute den größten Teil ihrer Arbeitszeit nur herum sitzen. Während der immer noch anhaltenden Berichterstattung über die Folgen und Umstände der Brandkatastrophe sind es gerade diese Medien, die überall ein Versagen des Staats sehen, aber nicht die mit der Sparpolitik verbundenen Hintergründe dazu beleuchten. Auch heute, eine Woche nach der Krise, verweisen neoliberale Positionen vertretende Medien auf die Kosten für die Feuerwehr, diese seien im internationalen Vergleich zu teuer.

Folgen der Sparmaßnahmen

Tatsächlich halten die griechischen Feuerwehrleute für knapp 660 Euro brutto ihre Knochen hin. Das, was den griechischen Brandschutz verteuert, sind die geographischen Gegebenheiten, sowie die außerhalb der Städte durch Berge und Wälder bestimmte Landschaft. Zudem führen die klimatischen Bedingungen in Griechenland mit langen Trockenperioden zu perfekten Bedingungen für Brände - ob gelegt oder spontan entstanden. Darüber hinaus fehlt es im Land an vielen Ecken und Enden an Infrastruktur. Wilde oder nur unzureichend geplante Mülldeponien der Stadtgemeinden sind als potentielle Brandherde seit langem bekannt. Ohne staatliche Investitionen kann sich daran nichts ändern.

Statt hier anzusetzen, beginnen Medien und neoliberale Opposition über eine privatisierte Feuerwehr nachzudenken. Oppositionsführer Mitsotakis brachte dabei den Reeder Niarchos als potentiellen "Spender" ins Gespräch. Vergessen wird dabei, dass ausgerechnet reiche Reeder wie Niarchos von einer angesichts der Abgabenbelastung für Bürger skandalösen Steuerfreiheit profitieren. Es erschreckt, dass von Seiten der Regierung hier noch keine entsprechende Antwort geliefert wurde. Die Regierung ist viel mehr damit beschäftigt, sich auf PR-Ebene gegen die Angriffe der oppositionellen Presse zu verteidigen.

So ließ der Sender Skai Polizisten zu Wort kommen, die ein komplettes Versagen der Funkgeräte während der Brandbekämpfung im Katastrophengebiet monierten. Unerwähnt blieb, dass für die für die Olympischen Spiele von 2004 angeschafften digitalen Funkanlagen wegen der Staatsfinanzkrise kein Wartungsbudget mehr existiert. Im Gebiet um das verbrannte Mati, dem Ort, an dem die Menschen verbrannten, gab es zum Zeitpunkt des Ausbruchs des Feuers nur zwei Feuerwehrwagen. Die übrigen waren vom Osten Attikas in den Westen, an den Brandherd um Kineta und zum Schutz der dortigen privaten Raffinerien abgezogen worden.

Hätte es, was statistisch äußerst selten vorkommt, nicht drei in der Folge weniger Stunden in Attika ausgebrochene Brände gegeben, wäre der Mangel an Personal und Material vielleicht nicht so stark ins Gewicht gefallen. So aber blieb Mati in den entscheidenden Stunden ohne Brandschutz. Weil der Brand bei Einbruch der Dunkelheit noch tobte und Opfer forderte, konnten die Löschflugzeuge und Löschhubschrauber nicht mehr operieren. Auch hier waren die einsatzfähigen Maschinen zunächst in Kineta im Einsatz. Heftige Winde aus ungewohnter Richtung sorgten zudem für eine schnelle Ausbreitung des Feuers entgegen der üblichen Richtung, so dass Brandschutzpläne und Krisenmodelle von vornherein ad acta gelegt werden mussten.

Es steht nach derzeitigem Stand der Berichterstattung außer Frage, dass es Gedanken über eine Evakuierung des vom Brand bedrohten Ortes gegeben hat. Die Regierung beruft sich auf die Unmöglichkeit, "20.000 Menschen innerhalb kürzester Zeit zu evakuieren" (Regierungssprecher Tzanakopoulos). Auf Satellitenaufnahmen basierende Presseberichte gehen dagegen von einer erheblich geringeren Zahl betroffener Personen, knapp 4000 aus. Doch auch für diese war eine Evakuierung mit einer realistischen Einschätzung der Sachlage ein beinahe unlösbares Problem.

Die Polizeikräfte waren bereits mit der Absperrung des Ortes hoffnungslos überfordert. Sie nötigten selbst den Durchfahrverkehr zum Verlassen der zentralen Marathon Avenue und damit zum Abbiegen in die engen Gassen, welche zur Strandpromenade von Mati führten. Dies erwies sich im Nachhinein als Weg in den Tod. Die engen Gassen waren nach dem Brand mit teilweise geschmolzenen Autos gefüllt, die sich, weil aus gegenteiligen Richtungen kommend gegenseitig den Weg versperrten.

Hier nur die Polizei zu beschuldigen, wäre mehr als ungerecht. Die Polizisten wussten es nicht besser, sie wurden offensichtlich von keiner vorgesetzten Stelle über den fatalen Fehler informiert. Die Marathon Avenue selbst galt bis dato als Brandschutzwall. Es ist eine breite Straße mit zwei Spuren für jede Fahrtrichtung. Eigentlich hätte dies die Ausbreitung des Brandes vom Festland hin zum Strand und zu den dort gefangenen Menschen verhindern sollen. Allerdings wurden auch hier schwerwiegende Fehler gemacht.

Für die Olympischen Spiele 2004 wurde die Strecke begrünt. Schließlich sieht eine mit Bäumen umrahmte Schnellstraße für die historische Marathonlauf-Strecke schicker aus als eine Strecke durch Beton und Asphalt. An die Konsequenzen dachte von den damaligen Planern niemand.

Wie in Griechenland - aus Spargründen - seit jeher üblich, wurden Kiefern und weitere Nadelbäume gepflanzt. Diese sind im Unterhalt preiswerter, müssen nicht regelmäßig gegossen werden, sind das gesamte Jahr über grün und wachsen schnell. Entscheidender Nachteil ist jedoch die leichte Brennbarkeit samt der nahezu explosiven Gefahr durch im Brandfall weit fliegende brennende Zapfen. Diese wirken wie Beschleuniger zur Ausbreitung jeglicher Brände.

Im Fall der Marathon Avenue kam erschwerend hinzu, dass die Bäume - aus Kostengründen - nicht beschnitten wurden. Mit den vorherrschenden Winden war die Brandschutzwirkung der breiten Straße somit komplett neutralisiert. Zuständig für die Reinigung und Instandhaltung von über die Stadtgrenzen hinausgehende Straßen ist die jeweilige Region. Zuständig für die Genehmigung des Rückschnitts von Bäumen sind die Waldämter, die sich auch bei Bäumen in Privatgrundstücken einmischen und den Auftrag haben, eisern das Lebens- und Entfaltungsrecht jedes Baumes zu verteidigen.

Die Koordination der Rettungskräfte, Evakuierungspläne und alles, was mit Katastrophen zusammenhängt, ist ebenfalls kompliziert. Die oberste Zuständigkeit hat das Anfang des Jahrtausends geschaffene Amt für Zivilschutz. Allerdings wurde dieses Amt nie wirklich mit Durchsetzungsmöglichkeiten für die Kompetenzen ausgestattet. Tatsächlich ist es in seiner jetzigen Form bei Krisen nicht einsatzfähig. Es leidet insbesondere seit Ausbruch der Staatsfinanzkrise unter chronischem Geldmangel und ist schlicht zu einem Amt geworden, dessen Posten von regierungsnahen Personen besetzt werden.

Europaweit gültige Regelungen, wie die einheitliche Notfallnummer 112 existieren zwar bereits auf dem Papier, wirklich erreichbar wird die Nummer jedoch erst ab Anfang 2019 sein. Die Telefonleitungen der normalen Einsatzstellen von Polizei und Feuerwehr waren während des Brandes hoffnungslos überlastet durch die Anrufe entsetzter Bürger, die innerhalb von weniger als einer Stunde seit Ausbruch des Brandes kilometerweit von Flammen eingeschlossen waren.

In ihrer Not riefen viele bei Rundfunksendern an. Diese - allen voran Skai TV - übernahmen von sich aus eine Art Koordinationsfunktion, ohne dafür qualifiziert zu sein. Bei der Berichterstattung überwog die Regierungskritik, was einem neutral vermittelten Gesamtbild der Lage nicht zuträglich war. Die Berichterstattung vermittelte noch während des Brandes Hoffnungslosigkeit. Im Rahmen eilig verfasster Beiträge wurden von vielen Medien zudem Fotos vertauscht. Von den über Medien als aktuell verbreiteten und später in sozialen Netzwerken vielfach geteilten Fotos "jetzt in Mati" wurden einige als Banner für die #prayforgreece Kampagne verwendet. Unter anderen betraf dies ein Foto des Autors vom Brand in Kalamos am 13.8.2017, ein Foto des Kollegen Vlachos von Chios 2012 und ein Foto von 2016, welches die Brände von Santorini aus früheren Jahren zeigt.

Die Sender scheuten sich nicht, mit dramatischen Worten über gerade aufgefundene Tote zu sprechen und diese Szenen plastisch zu beschreiben, während in Mati die Menschen noch um ihr Leben rangen. Diese wiederum verfügten über keinerlei Hilfsmittel, sondern lediglich über Mobiltelefone, mit denen sie zwar von Verwandten und Freunden die dramatischen Beschreibungen, nicht aber einen hilfreichen Rat hören konnten.

Weiter gilt, dass für die Evakuierung eines Ortes, in dessen Gebiet ein Feuer brennt, der jeweilige Bürgermeister zuständig ist. Brennt das Feuer auf dem Gebiet zweier Gemeinden - was bei der Katastrophe von Mati der Fall war - dann ist die Region zuständig. Regionen und Gemeinden wurden bei der letzten, von den Kreditgebern verordneten Reform aus Spargründen zusammengefasst. Die neu entstandenen Gemeinden befinden sich noch in der ersten Legislaturperiode.

Zum Verhängnis wurde es den Griechen, dass bei der letzten Wahl angesichts der Enttäuschung über etablierte Politiker politisch vollkommen unerfahrene Personen des öffentlichen Lebens zu Bürgermeistern wurden. Der Bürgermeister von Marathon, Ilias Psinakis, dessen Rücktritt nun die Mehrheit des Stadtrats fordert, ist im Hauptberuf Manager von Sängerstars und wurde einer breiteren Öffentlichkeit als die griechische Version von Dieter Bohlen, sprich als bissiger, zeitweise witziger Kritiker in Reality Shows für tatsächliche oder eingebildete Gesangstalente bekannt.

Es gehört zu den Nebeneffekten der letzten Kommunalreform, dass die Abberufung eines seinen Aufgaben nicht gewachsenen Bürgermeisters durch den Stadtrat nicht vorgesehen ist. Während der Bürgermeister von Rafina im Brandgebiet selbst an der Feuerfront kämpfte, griff Psinakis als Bürgermeister des ebenfalls betroffenen Nachbarorts nicht ein. Er verstörte vielmehr bereits im Vorfeld der Katastrophe mit einem Antrag, abgebrannte Wälder zugunsten von Investoren zu Bauland zu erklären.

Die Feuerwehr kann, wie im Fall Mati nach den Angaben von Feuerwehroffizieren und Augenzeugen geschehen, eine Evakuierung empfehlen. Sie hat aber keine Dienstbefugnis, diese durchzusetzen. Die Polizei hingegen hat im Brandfall überhaupt keine diesbezügliche Befugnis, sie nimmt nur Befehle von der politischen Führung - aka Bürgerschutzministerium - entgegen und führt diese aus. Der Minister für Bürgerschutz, Nikos Toskas, ist gleichzeitig oberster Dienstherr der Feuerwehr, hat aber mit der Küstenwache und der Seenotrettung keinen institutionellen Kontakt. Hier ist das Marineministerium zuständig.

Im Fall von Mati hatte das Marineministerium jedoch keine mit Ärzten ausgestatteten Boote in der engeren Umgebung. Die vorhandenen Boote verfügten zudem nicht über die notwendige Ausstattung, um an den brennenden Strand von Mati zu fahren. Sie versuchten es ebenso wie Fischerboote und kleiner Fähren trotzdem.

Die Menschen an der von hohen Felsen eingeschlossenen engen Strandküste hatten einerseits den Brand im Rücken und wurden mit brennenden Tannen- und Kiefernzapfen geradezu bombardiert. Andererseits hatten sie wegen des dichten Qualms kaum Sicht und keine ausreichende Atemluft. Zudem fiel ein Ascheregen auf sie herab. Dazu kam, dass es an der Küste vor Mati zahlreiche Felsenstücke im Meer und darauf Seeigel gibt. Dies gepaart mit der Panik war für viele schlicht nicht mehr zu bewältigen.

So kam es, dass bei der schließlich über das Meer erfolgten Rettung der Eingeschlossenen zuerst die Kräftigeren gerettet wurden, also diejenigen, deren Kraft ausreichte, um aufs offene Meer hinaus zu schwimmen.

Die NATO verhinderte eine schnelle Rettung?

In diesem Chaos wäre das Militär die letzte noch finanziell und materiell gut ausgestattete Institution gewesen. Der Einsatz des Militärs zum Zivilschutz hat in Griechenland bereits mehrfach Menschenleben gerettet. Zu guter Letzt sind die hierarchischen Strukturen im Militär im Gegensatz zu denen der Zivilverwaltung in der Praxis funktionsfähig. Dies alles hatte ein Reporter der BBC im Sinn, als er Verteidigungsminister Panos Kammenos fragte, warum das Militär nicht früher und effektiver in die Rettung eingriff. Kammenos antwortete trocken, dass dafür keine Genehmigung der NATO vorgelegen habe (ab Minute 1 abrufbar hier).

Zu guter Letzt brachte Kammenos als erster die These von den Opfern als Schuldige an ihrem Tod ins Gespräch. Er meinte zur BBC, die Bürger müssten lernen, dass Verbrechen bestraft würden. Als Verbrechen bezeichnete er die Schwarzbauten, die von sämtlichen Vorgängerregierungen toleriert wurden. Allerdings vermied es Kammenos, die BBC darüber aufzuklären, dass seine Regierung selbst in einer Aktion zur Kapitalabschöpfung die Legalisierung von Schwarzbauten und nicht genehmigten Bauerweiterungen gesetzlich beschlossen hatte. Die Regierung nahm damit zunächst die Baugenehmigungsgebühren, eine Strafzahlung und später die mit Immobilien verbundenen direkten Steuern sowie die mit Immobilienbesitz gekoppelten Schätzbeträge für Einkommenssteuern ein. Gleichzeitig propagiert sie die Bebauung von Stränden durch Investoren. Dabei wurde genau das, der nicht zugängliche Strand von Mati, für viele zur Todesfalle.

Nun möchte die Regierung Aktionismus zeigen. Sie möchte demonstrativ Schwarzbauten, offenbar auch zwischenzeitlich legalisierte, "im öffentlichen Interesse" abreißen lassen. So will sie sich "mit den mächtigen Kreisen" anlegen. Es ist nicht zu erwarten, dass die Athens Mall in Marousi abgerissen wird. Auch sie ist ein gigantischer Schwarzbau, der temporär als Pressezentrum für die Olympischen Spiele von Athen 2004 gebaut, aber nie benutzt wurde. Heute dient sie dem griechischen Oligarchen Latsis als Spekulationsobjekt. Es wurde dem Banker und Reeder für einen Spottpreis verpachtet. Es ist nicht der einzige derartige Bau. Auch das frühere Handelsministerium in Athen, ein Gebäude welches über die griechische Treuhand zum Verkauf angeboten wurde, verfügt über zwei über die Baugenehmigung hinaus erstellte Stockwerke.

Im Übrigen wurden sogar U-Bahn-Stationen der Athener Metro für die Olympischen Spiele ohne regelkonforme Baugenehmigung errichtet. Die Liste von Hintergründen zur Katastrophe von Mati ließe sich fast endlos fortsetzen. Selbst ein Rücktritt Tsipras würde nichts daran ändern, dass fundamentale Probleme des Landes auch nach mehr als acht Jahren Troika, kurz vor dem Ende des dritten Sparprogramms, nicht besser, sondern erheblich schlimmer geworden sind.