"Man wünschte, dass sich Herr Maas die deutsche Geschichte vor Augen führt"

Der Literaturprofessor Carsten Gansel über seine Erfahrungen in Moskau, deutsche "wertorientierte Außenpolitik" und "blinde Flecken" im Umgang mit Russland

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Herr Prof. Gansel, Sie lehren Deutsche Literatur und Mediendidaktik an der Universität Gießen und haben jüngst längere Zeit in Russland verbracht, im Wintersemester 2017/2018 als Gastdozent an der Staatlichen Landesuniversität Moskau. Während Ihres Aufenthalts ist ein öffentliches Tagebuch entstanden, das zunächst in einem Blog der Tageszeitung Nordkurier erschien und nun auch als Buch vorliegt. Zunächst: Wie haben Sie selbst Russland erlebt, verglichen mit der Darstellung des Landes in hiesigen Medien?

Carsten Gansel: Da muss ich ein wenig ausholen, denn die Gastdozentur war letztlich Folge einer längeren Beschäftigung mit Russland. Abgesehen davon, dass ich auch Slawistik studiert habe, bin ich seit 2012 jährlich um die zweimal in Russland gewesen. Es hing dies mit der Entdeckung von Heinrich Gerlachs Urfassung seines Romans "Durchbruch bei Stalingrad" zusammen, den er in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft geschrieben hatte und der dann 1949 vom sowjetischen Geheimdienst konfisziert wurde.

Bis Gerlachs Antikriegsroman im Frühjahr 2016 beim Galiani Verlag erscheinen konnte, vergingen wegen des komplizierten Editionsprozesses einige Jahre, in denen ich immer wieder in Moskau bzw. Russland war. Auch wegen eines zweiten Projektes, das sich mit der Literatur der Russlanddeutschen beschäftigte und danach fragte, was aus deren tragischer Geschichte in der Literatur erinnert wurde und was nicht. So war ich unter anderem in Saratow, dem Zentrum der früheren Wolgadeutschen Republik.

Zwischenfrage: Wie haben Sie damals Russland gesehen?

Carsten Gansel: Als ich 2012 ankam, da war meine Sicht auf Russland recht kritisch, ich hatte Berichte in den deutschen Medien zum Maßstab meiner Bewertung gemacht, und ich konnte nicht einsehen, warum ein Mann wie Chodorkowski verurteilt worden war. Aber, wenn man hinreichend Niklas Luhmann gelesen hat und nicht nur ihn, dann weiß man natürlich um die Rolle der Medien und man ist aufgefordert, selbst zu "beobachten". Und es geht dann mithin auch darum, die "Beobachter" zu "beobachten".

Das habe ich getan, seit 2012, und da ist dann eine Person - das sage ich mit aller Zurückhaltung - wie Chodorkowski kein Held oder Dissident, sondern erstmal ein Oligarch, und es steht die Frage, auf welche Weise er und andere ihre ungeheuren Reichtümer Mitte der 1990er Jahre angehäuft haben. Da muss man dann versuchen, sich über die Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion zu informieren und in die Geschichte gehen. Und es kann nicht von Schaden sein, auch die Bürger, die davon betroffen waren, selbst zu befragen. Und ich habe gefragt, immer wieder.

Hat sich Ihr Bild auf Russland dadurch verändert?

Carsten Gansel: Auf jeden Fall. Ich glaube, das ist ein normaler Prozess, wenn man bereit ist, sich auf Neues einzulassen und es einem nicht darum geht, nur die eigene Position bestätigt zu sehen: Man macht persönliche Erfahrungen, und dann passen mediale und "amtliche" Verlautbarungen - in diesem Fall über Russland - nicht mehr zu dem, was man selbst sieht und erlebt. Man vergleicht und ist irritiert, ja aufgestört. Und wie wir wissen, kann dies die Grundlage sein, um zu lernen oder noch genauer hinzusehen.

Jedenfalls konnte ich in den Jahren eine rasante Entwicklung beobachten, nicht nur in Moskau. Russland ist ein modernes, wohlgemerkt ein modernes Land, kein postmodernes, und die Zustimmung ganz unterschiedlicher Schichten zu Wladimir Putin ist deutlich angewachsen. 2012 sind mir viele Putin-Kritiker begegnet, ich selbst war einer. 2014 war das schon ganz anders, bei ein und demselben Personenkreis. Da kann man nun die Frage stellen, woran das liegt. Und um die Antwort vorwegzunehmen: Es liegt nicht zuletzt an der Verbesserung der Lebensverhältnisse in Russland, an gewonnener Stabilität und zweifellos an der Politik des Westens gegenüber Russland.

Nun wird ja von westlicher Seite weiterhin an Sanktionen festgehalten. Wie nimmt man das Ihrem Eindruck nach in Russland wahr?

Carsten Gansel: Über die Sinnhaftigkeit von Sanktionen und ihre jeweiligen Begründungen müsste man gesondert sprechen. Ich kann da immer nur für den Ausschnitt von Welt reden, mit dem ich es zu tun bekommen habe.

Gerade im Kontext der Fußball-WM - ich war zum Endspiel - habe ich mit einem Bekannten erneut darüber gesprochen. Wir gingen an einem riesigen Angebot von Früchten und Gemüse vorbei, das ein Händler jeden Tag am frühen Morgen in einem Wohngebiet in Parknähe direkt von seinem LKW entlud, das war nicht einmal ein Stand, und am späten Abend packte er wieder ein. Die Leute kauften - und waren ausgesprochen zufrieden. Wie ich erfuhr, handelte es sich um eine Kette aus Armenien, die im Umland von Moskau Dependancen aufgebaut hat. Und auf meine Frage, wie man das mit den Sanktionen sieht, war die Antwort: "Hier in Russland sagt der normale Bürger, dass das für den Westen ein Schuss ins Knie gewesen ist."

Es sind nämlich jene Bereiche der Wirtschaft angekurbelt worden, die besonders abhängig von Importen waren. In Russland gibt es bekanntlich hinreichend klimatische Zonen, in den Gemüse und Obst gedeiht. Und der französische Käse kommt jetzt über einen Umweg aus Weißrussland. Wenn er denn kommt. Aber Bankleute in Russland werden möglicherweise eine andere Sicht haben und darauf verweisen, dass der Rubel abgesackt ist.

Was für einen Blick hatten ihre russischen Studenten auf Deutschland?

Carsten Gansel: Einen ausgesprochen positiven. Und das durchgängig. Wenn die Studentinnen von Deutschland sprachen, da gerieten sie ins Schwärmen. Die meisten aus meinen Gruppen waren in München. Deutschland wird als reiches und kulturvolles Land gesehen, in dem alles funktioniert. Etwas betrübt waren sie darüber, dass sich die deutsch-russischen Verhältnisse verschlechtert haben.

Die Trauer über das nicht mehr so gute Klima, das trifft aber nicht nur auf junge Leute zu, sondern ist ein - glaube ich - generationenübergreifendes Phänomen, das mir permanent begegnet ist. Im Rahmen einer Tagung wurde von russischer Seite konstatiert, dass die Russen den Deutschen schon nach sehr kurzer Zeit verziehen hätten. Bei 27 Millionen toter Sowjetbürger im Zweiten Weltkrieg ist das - ich sage das sehr bewusst - nicht ganz so selbstverständlich.

Vorurteile oder reales Bild vom anderen?

Nur relativ wenige Deutsche werden persönliche Kontakte nach Russland haben und umgekehrt. Die meisten sind in ihrer Beurteilung auf die Vermittlung durch die Medien angewiesen. Wie wirkt sich das aus, wenn Sie sich Ihre Studenten in Deutschland und in Russland anschauen? Haben Sie den Eindruck, dass die jungen Leute über ein einigermaßen realistisches Bild vom jeweils anderen Land verfügen? Oder dominieren medial vermittelte Vorurteile?

Carsten Gansel: Für die russischen Studenten kann ich sagen, dass ich keinerlei Vorurteile spüren konnte, auch nicht zwischen den Zeilen. Und das trifft auch für andere - sagen wir - Bevölkerungsgruppen zu. "Die" Deutschen stehen hoch im Kurs. Auch, was die Informiertheit betrifft, sind die jungen Leute bestens mit Deutschland vertraut. Nun muss man natürlich immer bedenken, dass es Studenten waren, die Deutsch als Fach belegten. Bei anderen waren die konkreten Erfahrungen geringer, aber auch hier das Bild durchweg positiv.

Und ich kann auch nicht sagen, dass in den russischen Medien nun irgendwelche negativen Positionen zu Deutschland verbreitet würden. Das ist ja umgekehrt nicht so. Man sollte auch nicht vergessen, dass für das riesige Russland die Bundesrepublik nicht der Nabel der Welt ist, auch wenn deutsche Politiker das mitunter wohl anders sehen. Ich habe öfter mal deutschen Freunden empfohlen: Einfach mal auf den Globus schauen!

Und Ihre Studenten in Deutschland?

Carsten Gansel: Schwierige Frage. Erst einmal glaube ich, dass die Kenntnisse über Russland bei deutschen Studenten eher gering sind, und dass sie ihr Bild in der Tat zumeist aus den Berichten der Medien zusammenbauen. Jedenfalls ist das meine Erfahrung beim größten Teil jener, mit denen ich zu tun habe. Freilich, es gibt hier sehr wohl Ausnahmen. Dazu gehören natürlich auch jene, die einen russischen Hintergrund haben.

Aber es ist eigentlich kein Wunder, wenn der deutsche Blick gen Russland ausgesprochen eingeschränkt ist. Wie auch anders, die Russische Sprache ist den meisten nicht geläufig, und allein die kyrillischen Buchstaben machen es schwer, sich zu orientieren. Zudem zieht es junge Leute wohl nach wie vor in alle Teile der Welt, aber weniger Richtung Osten. Kollegen, die an Universitäten in den neuen Bundesländern lehren, müssten hier ergänzen und müssten sagen, ob diese - meine Erfahrung - auch für jene gilt, deren Eltern in der DDR groß geworden sind.

Aber um auf ein Beispiel zu kommen, wo das Problem bereits beginnt: Die wenigsten Studenten wissen, dass Russland sich aus guten Gründen nach dem Chaos der 1990er Jahre für eine Präsidialdemokratie entschieden hat, also eine Staatsform, in der der Präsident direkt gewählt wird und mit entsprechenden Befugnissen ausgestattet ist. In Deutschland haben wir bekanntlich eine repräsentative bzw. parlamentarische Demokratie, was ja nicht bedeutet, dass die jeweiligen Staatschefs nicht auf ihre Richtlinienkompetenz verweisen und diese in zentralen Fragen auch genutzt haben - oder gar davon sprechen, dass ihre Politik "alternativlos" ist.

Aber, wenn man den Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Demokratie nicht kennt bzw. der permanent vernebelt wird, dann vergleichen wir Äpfel mit Birnen, und es ist kein Wunder, wenn da Klischees von Putin als Alleinherrscher oder Zar kursieren oder von Putins Reich die Rede ist. Dahinter steckt dann, ausgesprochen oder nicht, anscheinend auch die Vorstellung, dass die einzig akzeptable Staatsform jene ist, die die westlichen Gesellschaften inzwischen etabliert haben und mit der man auch alle, die noch nicht so weit sind, beglücken muss. Eine solche Auffassung ist - ich formuliere jetzt freundlich - Hybris! Und wohin eine solche Auffassung führen kann, dafür gibt es nach 1990 hinreichend Beispiele.

Sind russische Medien gleichgeschaltet?

Stichwort Medienvielfalt bzw. "Gleichschaltung": Sie haben während Ihrer Zeit in Moskau auch regelmäßig russisches Fernsehen geschaut. Wie ist Ihr Eindruck?

Carsten Gansel: Ich habe schon an anderer Stelle davon berichtet, dass ein Freund und Kenner der deutsch-russischen Beziehungen mich gefragt hat, wie wir Deutschen dazu kommen würden, mit Blick auf Russland immer vom Staatsfernsehen oder einer Steuerung durch Putin zu sprechen. Und er hat dann sehr deutlich betont: "Hier in Russland gibt es ausgesprochen viele Positionen zur Rolle der Politik, zu Korruption, zur Ukraine. Aber bei Euch? Schaut doch mal Eure Medien an."

Aber lassen wir jetzt mal die deutschen Medien, jedenfalls die öffentlich-rechtlichen, über deren Staatsnähe oder nicht man gesondert sprechen müsste. Mein Eindruck ist durch das, was ich gesehen habe, und ich kann auch hier nur für mich sprechen, geprägt. Und da muss ich sagen, dass es eine große Vielfalt an Positionen gibt, für den Präsidenten Putin, na klar, aber auch in einer für mich erstaunlichen Aggressivität - wie ich sie aus Deutschland nicht kenne - gegen ihn. Da fliegen richtig die Fetzen, mal etwas salopp gesagt. Ob das nun gut oder schlecht ist und was daran Inszenierung ist oder nicht, das will ich hier gar nicht entscheiden. Was auf jeden Fall nicht zutrifft, das ist das in Deutschland vermittelte Bild der Uniformität der russischen Medien.

Mit Ihren russischen Studenten haben Sie auch über Gorbatschow, Jelzin und Putin gesprochen. Was kam dabei heraus?

Carsten Gansel: Gorbatschow wird insgesamt eher negativ bewertet. Er habe für die Deutschen viel gebracht, aber seine Vorstellungen von der Erneuerung der Sowjetunion, wenn er denn wirklich solche hatte, die sind gescheitert. Ein starker Präsident sei er jedenfalls nicht gewesen.

Im Unterschied zu Gorbatschow - so die Aussage - würde Jelzin regelrecht gehasst. Und die Studentinnen führten Beispiele dafür an, welche Folgen Jelzins Politik für ihre eigenen Familien gehabt hat, und welch ein Chaos in den 1990er Jahren unter Jelzin geherrscht habe. Er selbst sei ein Trinker gewesen, für den man sich schämen müsse, noch heute. Und ich wurde dann auf YouTube-Sequenzen verwiesen. Schließlich sei Jelzin es gewesen, der die Oligarchen erst habe entstehen lassen. Und mit denen müsse Putin jetzt leben. Putin sei ein starker Präsident, und was er nach Außen vertrete, habe ihre Zustimmung. Nur nach innen müsse noch mehr funktionieren. So müsse er auch die Korruption in den Griff bekommen, dazu brauche man Nawalny nicht.

"Wertorientierte Außenpolitik"

Im Buch beschreiben Sie Ihre Teilnahme an einer Diskussionsrunde an der Deutschen Botschaft in Moskau, die unter der Überschrift stand, dass Deutschland und Russland nie eine Allianz geworden seien. Wie wurde dort argumentiert und welche Beobachtungen haben Sie dazu gemacht?

Carsten Gansel: In der Tat, das Thema war so überschrieben: "Russland und Deutschland - die Allianz, die es nie wurde". Das entsprach in etwa dem Titel des Buches von Nikolaj Pawlow, der Professor an der MGIMO ist, dem Staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen und der der Gast des Abends war. Pawlow verwies darauf, dass beide Länder eine lange Geschichte verbinde, es mal kurze Allianzen bzw. Zusammenarbeit gegeben habe, aber von Dauer sei die nicht gewesen.

Seit dem Beginn der 1990er Jahre habe sich der Status von Deutschland in der Welt verändert. Deutschland ist nunmehr ein "Weltspieler". Eben darum hänge von den deutsch-russischen Beziehungen viel ab. Ohne Russland ist Stabilität nicht denkbar. Der Position wurde in der Runde zugestimmt. Später im Verlauf des Abends war dann davon die Rede, dass es mit Gerhard Schröder keine eigene Ostpolitik Deutschlands mehr gebe. Das habe nicht mit Schröder persönlich zu tun, sondern schlichtweg damit, dass Deutschland nun im Rahmen der EU agiere und nicht mehr nur für sich entscheiden könne.

Als Problem wurde von Pawlow dann der Umstand benannt, dass Deutschland eine "wertorientierte Außenpolitik" mache, aber "wir, die Russen, haben unsere Werte aktuell nicht definiert, welches Ziel haben wir, was wollen wir", fragte er. Nun bin ich gar nicht der Auffassung, dass Russland nicht weiß, welche Werte maßgeblich sind und welche nicht. Ich glaube, dass recht klar ist, wo die Linie dessen verläuft, was toleriert wird und was nicht.

Was meinte Prof. Pawlow Ihrem Verständnis nach mit "wertorientierter Außenpolitik"?

Carsten Gansel: Das vermag ich nicht zu sagen, unser Treffen im Februar ist dann nicht zustande gekommen. Aber ich kann schon sagen, was Frau Dr. Merkel bzw. die deutsche Regierung und auch eine Reihe von Parteien in Deutschland damit vermutlich meinen.

Eine "wertorientierte Außenpolitik" zeigt sich etwa darin, dass der deutsche Außenminister, damals war es Guido Westerwelle, nach Kiew fliegt und auf dem Maidan die Demonstranten auffordert, die gewählte Regierung zu stürzen. Nun mag der EU und den USA die damalige Regierung nicht gefallen haben, aber das ist ja kein hinreichender Grund, dort außenpolitisch in innere Belange einzugreifen. Dahinter steht die Idee, den Dialog stärker über zivilgesellschaftliche Instanzen in den Ländern zu führen und nicht mit Vertretern der gewählten Regierungen. Das wäre vor 1989 und in der klassischen Diplomatie unmöglich gewesen.

Mich würde sehr interessieren, ob in Deutschland den Bürgern überhaupt klar ist, in welcher Weise eine solche Politik in den 1990er Jahre entworfen wurde und welche Konsequenzen das in der Praxis konkret hat. Wenn man das weiß, dann stellen sich einige Sachverhalte der vergangenen Jahre, denen man gefühlsmäßig zustimmen mag, völlig anders dar. Ein "Export von Werten" in Länder, die gänzlich anders historisch gewachsen sind und die eine gänzlich andere kulturelle Tradition haben, sollte eigentlich nach den Erfahrungen des Kolonialismus kritisch gesehen werden. Solche "wertorientierte Außenpolitik" hängt - man möge mich korrigieren - dann auch mit dem zusammen, was von den USA seit Jahrzehnten als praktische Politik realisiert wird, freilich ohne, dass es dagegen ernsthafte Proteste gibt, nämlich das "Government Change".

Mal locker gesagt: Dort, wo einem eine Regierung nicht gefällt, nutzt man die Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher Einrichtungen, um die Opposition zu stärken und da, wo es noch keine gibt, eine solche aufzubauen. Ich halte eine solche Politik nach den historischen Erfahrungen nicht nur des 20. Jahrhunderts für problematisch und überholt. Auch deshalb, weil sich - wenn man nach Russland, China oder in den arabischen Raum blickt - andere Allianzen bilden werden bzw. sich schon gebildet haben.

Sie schreiben zu dieser Diskussionsrunde: "Solche ernsthaften, reflektierten und (selbst)kritischen Debatten ohne moralisierende Attitüden wünschte man sich auch in Deutschland." Aus Ihrer Sicht: Warum gibt es so etwas hierzulande kaum?

Carsten Gansel: Es gibt sicher viele Gründe. Aber einer besteht mit Sicherheit darin, dass "der Westen" davon auszugehen scheint, dass seine Auffassung davon, wie heute zu leben ist, die richtige ist und allen Bürgern ein Maximum an Freiheit garantiert. Und, wenn dem so ist, dann habe man das Recht, anderen zu sagen, wo und was sie endlich nachholen müssen. Egal, ich sagte das schon, welche historische Entwicklung das jeweilige Land hatte und gerade hat.

Es gibt ja diese Vorhaltungen gegenüber Russland permanent, wenn es darum geht, dass Rechte von Minderheiten nicht hinreichend gegeben seien. Ob das so ist, darüber sollte man konkret reden. Aber lassen wir das einmal beiseite. Man überlege sich, dass solche Vorwürfe von deutschen Politikern gegen ein Land wie Russland gerichtet sind, das bis 1917 vom Zar regiert wurde und von 1917 bis 1990 mit der Gründung der Sowjetunion ein Einparteiensystem hatte. Einem Land, in dem es - wenn man so will - um die 100 Nationalitäten mit ganz, ganz verschiedenen historischen Traditionen, Mentalitäten und eben auch Werten gibt. Und, wenn es um Minderheitenrechte geht, dann sagen das deutsche Politiker und Medienmacher, die anscheinend vergessen, was für ein Land Deutschland einmal war, auch nach 1945 und dies nicht nur in den 1950er Jahren, der vermeintlich verstaubten Adenauer-Ära.

Um ein Beispiel zu geben: Vor einer historisch kurzen Zeit, nämlich 2001, hat Klaus Wowereit, der spätere Berliner Bürgermeister, mit seiner zum geflügelten Wort gewordenen Aussage "Ich bin schwul - und das ist auch gut so", etwas angestoßen und öffentlich markiert, was bis dahin tabuisiert war. Wowereit hat mit seinem Spruch auf die nicht hinreichende Toleranz aufmerksam gemacht. Allerdings brauchte es dann immer noch Jahre bis zur gesellschaftlichen Akzeptanz und den Niederschlag in Gesetzen.

Solche langwierigen und komplexen historischen Prozesse, die es natürlich in Deutschland über einen langen Zeitraum gegeben hat, werden gegenüber Russland nicht in Anschlag gebracht. Von daher bin ich mintunter schon erstaunt, wenn ich die moralisierenden Reden von einigen Politikern in Talk-Shows sehe und höre, die Historisches gänzlich ausblenden.

Und zu Ihrer Frage: Der Dialog funktioniert anscheinend nicht, weil zwar Toleranz permanent und immer wieder öffentlich beschworen wird, aber nolens volens beim Aufeinandertreffen mit einer anderen Meinung oder einem anderen gesellschaftlichen Wertesystem die eigene Position als die einzig richtige angesehen wird.

Ob die Rede davon, dass eine Politik "alternativlos" ist, einen Beitrag zum notwendigen Dialog darstellt, darf man bezweifeln. Es sind eben auch solche Aussagen, die bei jenen, "die mal DDR waren" - wie Ulrich Plenzdorf das vor vielen Jahren einmal treffend gesagt hat - Widerspruch erzeugen. Die vergleichen!

Historische Verantwortung gegenüber Russland

Der aktuelle Außenminister Heiko Maas verfolgt einen besonders russlandkritischen Kurs. Wie wird das bei Ihren Gesprächspartnern in Moskau gesehen?

Carsten Gansel: Mit Sorge. Nun gehört es mitunter dazu, dass eine Person, die neu im Amt ist, sich erst einmal hinreichend zu platzieren sucht, und wie kann man das besser, als sich vom Vorgänger abzusetzen. Insofern muss man sicher unterscheiden zwischen dem, was öffentlich verkündet wird, und dem, was auf den Schienen der Diplomatie real läuft. Gleichwohl, man wünschte, dass sich Herr Maas - wie er das sonst auch tut - die deutsche Geschichte vor Augen führt, und das, was ab 1941 in der damaligen Sowjetunion angerichtet wurde. Daraus ergibt sich für die Politik eine Verantwortung. Und welches Land ist mehr dazu prädestiniert, diese Verantwortung wahrzunehmen, als Deutschland?

Und noch eine Ergänzung: Konrad Adenauer hat etwas ungemein Wichtiges gegenüber Israel getan, er hat nämlich das eingeleitet, was man "Versöhnungskurs" nennt, indem er anerkannte, welche historische Schuld Deutsche mit dem Holocaust zu verantworten haben. Wie ist das eigentlich nach 1945 in der Bundesrepublik gegenüber der Sowjetunion gewesen?

Sie haben sich viel mit einem verhängnisvollen Teil der deutsch-russischen Geschichte befasst, Stichwort Stalingrad, und etwa die lange verschollene Originalfassung des Antikriegsromans "Durchbruch bei Stalingrad", von Heinrich Gerlach herausgegeben. 2016 wurde dieses Buch ein Spiegel-Bestseller. Trotz allem scheinen deutsche Spitzenpolitiker diesen Teil der Geschichte heute fast vergessen zu haben. Wie schätzen Sie das ein?

Carsten Gansel: Ja, das muss ich - leider - bestätigen. Es gibt Ausnahmen, ich habe dies zumindest beim früheren Außenminister Frank Walter Steinmeier wahrgenommen. Aber zum Kern: Selbst, wenn man meint, eine - wir sprachen darüber - "wertorientierte Außenpolitik" zu vertreten, kann das nicht bedeuten, dass man in einem Land wie Deutschland, das zu Recht auf seine Erinnerungspolitik stolz ist und im Ausland dafür geachtet wird, an dieser Stelle schlichtweg vage wird und mitunter der Eindruck entsteht, hier würde sich - anders als sonst -, ein "blinder Fleck" auftun und Politik "abducken".

Mit einem ZDF-Team waren Sie im heutigen Wolgograd. Welche Eindrücke haben Sie von dort mitgenommen?

Carsten Gansel: Sehr nachdrückliche, mal oberflächlich formuliert. Immer, wenn das Gespräch darauf kommt, ergibt sich bei mir eine gewisse Beklemmung und emotionale Bewegtheit. Ich vermute, dass dies bei den anderen beiden ähnlich war und ist.

Freilich ist das, was man empfindet, immer auch davon abhängig, was man über den Ort und die Geschichte weiß. Solange man "nur" einen Film sieht oder "nur" einen Roman über Stalingrad liest, wird sich die Empathie vielleicht in Grenzen halten, weil der Abstand da ist. Ich lese das Buch zu Hause in meiner gewohnten Umgebung, das hat Folgen. Und vor allem: Ich habe - zum Glück - nicht das, was man Primärerfahrung nennt. Daher sprach ich an anderer Stelle schon mehrfach davon, dass es Grenzen der Empathie gibt. Aber das ist ein anderes Thema.

Zu Ihrer Frage: Wenn man sieht, mit welcher Akribie und ungeheuren Energie noch heute, also 75 Jahre danach, aus der Erde vor der heutigen Stadt, die damals noch die Stadt war, die Überreste von Gefallenen geborgen werden - auf der einen Seite die deutschen Soldaten, auf der anderen die russischen, und jeder bekommt sein Kreuz oder seinen Stein -, dann geht es einem schon anders. Betroffen ist noch nicht einmal der richtige Ausdruck. Auch, wenn man mit der russischen Dolmetscherin spricht, der fast die Tränen kommen, weil sie nicht versteht, warum sich seit 2014 die deutsch-russischen Beziehungen so verschlechtert haben.

Der ostdeutsche Blick

Sie selbst sind Jahrgang 1955 und in der DDR aufgewachsen, die bekanntlich eine völlig andere Beziehung zu Russland bzw. der Sowjetunion hatte, als Westdeutschland. Inwiefern spielt diese Sonderbeziehung noch heute eine Rolle?

Carsten Gansel: Aus meiner Sicht spielt sie eine ganz entscheidende Rolle. Ganz egal, wie man vor 1989 zu "den" Russen stand, die zumeist mit einer Mischung aus Achtung und leichter Ironie "die Freunde" genannt wurden, unter Anspielung auf die staatlicherseits verordnete deutsch-sowjetische Freundschaft. Aber es ist auch hier wie bei vielem im Dasein, es sind die kleinen Dinge, die den Einzelnen prägen. Da sind die Texte aus dem Deutschunterricht, die man als Schüler damals doch etwas zu vorbildhaft empfand, nehmen wir Arkadi Gaidars "Feuertaufe" oder Nikolai Ostrowskis "Wie der Stahl gehärtet wurde", ausgewählte Stücke aus der Sowjetliteratur eben. Oder ganz anders Michail Scholochows der "Stille Don und "Ein Menschenschicksal". Später Tschingis Aitmatow.

Wer nur ansatzweise in den Romanen gelesen hat, bei dem ist vermutlich etwas "hängen" geblieben, was möglicherweise erst Jahrzehnte später zum Vorschein kommt. Zu denken ist auch an klassische russische Musik, Folklore oder Ballett, mit denen viele im Osten aufgewachsen sind. Und sowjetische Filme! Und nicht zuletzt: Wer weiß und erlebt hat, wie es sowjetischen Soldaten in der DDR ging, und vielleicht sogar mit dem einen oder anderen in Kontakt gekommen ist, dem wird zumindest rückblickend jegliche Arroganz gegenüber Russland verloren gegangen sein.

Es steht die Frage, ob die soeben skizzierten - jetzt sind es wirklich Primärerfahrungen - für viele in den alten Bundesländern zutreffen? Wohl eher nicht. Aber die, die die wenigsten Erfahrungen mit der Sowjetunion oder Russland haben, sind oft die aggressivsten und am wenigsten Toleranten. Das ist wie mit so vielem im Leben.

Bei allen politischen Debatten fällt häufig die Kultur unter den Tisch oder wird doch als Nebensache behandelt. Es existiert bekanntlich eine lange und tiefgehende gemeinsame kulturelle Tradition der beiden Länder. Wo sehen Sie heute Ansatzpunkte, um auf kultureller Ebene Brücken zu bauen?

Carsten Gansel: Was Sie fragen, das berührt den Punkt, den wir soeben bereits angesprochen haben. Es geht einerseits darum, die eigenen Erfahrungen mit der Sowjetunion oder Russland - wenn man denn welche hat - zu reaktivieren und gegebenenfalls öffentlich zu machen. Das reicht bis zu der von mir eigentlich ungeliebten Textsorte des Leserbriefs, wenn sich wieder mal ein kenntnislos-tendenziöser Beitrag in der Tageszeitung findet. In den neuen Bundesländern werden die übrigens auch abgedruckt.

Andererseits muss es darum gehen, dort wo es möglich ist, dialogische Beziehungen zu Russland aufzubauen. Denn wir wollen eines nicht vergessen: Staaten werden nicht von denen repräsentiert, die gerade mal an der Macht sind. Bertolt Brecht hat das im Kontext mit dem 17. Juni 1953 sehr schön auf den Punkt gebracht:

"Nach dem Aufstand des 17. Juni/Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands/In der Stalinallee Flugblätter verteilen/Auf denen zu lesen war, daß das Volk/Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe/Und es nur durch verdoppelte Arbeit/Zurückerobern könne. Wäre es da/Nicht doch einfacher, die Regierung/Löste das Volk auf und/Wählte ein anderes?"

Und wir sollten - wie so oft - Erfahrungen, die Brecht in diesem schönen Text speichert, nicht einzig bei der vergangenen DDR entsorgen. Die Gegenwart zeigt, dass solche "Abrechnungen", wie sie der frühere Sekretär des Schriftstellerverbandes, Kurt Barthel (Kuba) glaubte führen zu müssen, auch unter gänzlich anderen Verhältnissen anscheinend möglich sind.

Aber nochmal konkreter zu den möglichen Brücken: Ich weiß, dass im Bereich Wissenschaft, mithin bei der Zusammenarbeit von deutschen und russischen Hochschulen, durchaus sehr gute Beziehungen existieren. Da gibt es eine Reihe von Projektförderungen, nicht nur das Modell der Germanistischen Institutspartnerschaften. Aber sicher findet man in anderen Bereichen Vergleichbares. Da ist anzuknüpfen, das gilt es fortzusetzen und zu vertiefen. Und nicht zuletzt scheint es mir wichtig, in der normalen Alltagspraxis die viel beschworene Mündigkeit auch zu leben. Mut sollte dafür nicht vonnöten sein, denn "wir" sind doch eine demokratische Gesellschaft, oder?

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