"Deutschland wird brutaler"

Wohin driftet der Elitendiskurs? - Berliner Forscherin plädiert dafür, die strukturellen Fragen im Blick zu behalten

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Die aufgebracht geführte Debatte um die Themen Flucht, Migration, Integration verdeckt strukturelle Fragen, das ist zumindest die Ansicht einiger Beobachter, unter ihnen die Berliner Migrationsforscherin Naika Foroutan. "Strukturelle Fragen" würden sich unter anderem systemisch auf Heimatlosigkeit (erzeugte Heimatlosigkeit) und politischen Rassismus beziehen. Letzteres ist etwas Anderes als Xenophobie, erläutert der Journalist Timo Al-Farooq. Nicht zuletzt geht es um Herrschaft (um Herrschaftstechniken), hier sind folgerichtig Interessen am Werk.

Al-Farooq untersuchte bereits 2015 in einem Blogbeitrag interessanterweise die Begrifflichkeiten. Er bestreitet, dass Rassismus aus "Angst" resultiere, wie Populisten uns einreden möchten:

Rassismus ist nicht Xenophobie, Fremdenfeindlichkeit ist kein Angstzustand. Rassismus IST Fremdenfeindlichkeit, und somit eine aktive Haltung.

Timo Al-Farooq

Rasse als Konstrukt

Rassismus, so Al-Farooq, fußt demzufolge nicht auf Angst, sondern "ist eine politische Haltung. Sie ist historisch entstanden (…) mit der Entstehung von Nationalstaaten, die das Konstrukt der Rasse aus politischer Motivation heraus kreiert und somit Rassismus erst möglich gemacht haben."

Rassistische Einstellungen sind in Deutschland weit verbreitet, das bestätigen uns Wissenschaftler. Ein Beispiel: Die Forderung "Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden" fand im Jahr 2009 21,4 Prozent Zustimmung unter Teilnehmern einer repräsentativen Umfrage; 2016 waren es 41,4 Prozent. In demselben Zeitraum kletterte die Zustimmung zu der Aussage "Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land" von 32,2 auf glatte 50 Prozent.1

"Deutschland wird brutaler"

In der Tat ist ein Anstieg physischer Angriffe aus rassistischen Motiven zu beobachten. Laut Auskunft der Bundesregierung wurden 2017 in Deutschland mindestens 950 Angriffe auf Muslime bzw. muslimische Einrichtungen verübt.

"Deutschland wird brutaler", sagt die Migrationsforscherin Naika Foroutan. "Die gesellschaftlichen Entwicklungen weisen in eine präfaschistische Phase", so Foroutan gegenüber dem Berliner "Tagesspiegel", und sie spricht von moralischer Erosion, die direkt zu europäischen Menschenlagern in Nordafrika führe und zur Entwertung des Lebens anderer, die keine Europäer sind:

Ob Kind, ob Frau, ob Junge mit Hoffnung im Blick - das spielt keine Rolle. Die Zugangskategorie für Leben ist durch die Geographie bestimmt.

Naika Foroutan, Humboldt-Universität Berlin

Flüchtlinge werden "als Invasoren entmenschlicht". Europa, so ihr Resümee, rutscht gerade in eine Richtung "ohne progressiven sinnstiftenden Endpunkt".

Strategische Entmoralisierung

So plädiert Foroutan dafür, hinter den emotionalen die strategischen Aspekte im Blick zu behalten, sie spricht von einer "strategischen Entmoralisierung der Gesellschaften":

Die Welt wird instabiler, wenn die globale Ungleichheit anhält. Und unser Lebensstil ist unweigerlich mit der Armut der anderen Weltengegenden verwoben.

Naika Foroutan

Als Triebkraft nennt sie die extreme Rechte. Aber es ist offenbar so, je hysterischer wir auf die Debatten einschwenken, desto eher verdunkelt sich der Gesamtzusammenhang.

Wohin driftet der Elitendiskurs?

Strukturelle Fragen - die beträfen auch Interessenlagen. Fragen nach der Verfasstheit unserer Gesellschaft, nach Akteuren und Profiteuren, nach Herrschaft und Moral. Wir beobachten, wie Teile der Eliten von der Mitte abdriften, das sind auch soziologische Befunde: Es geht Teilhabern des Establishments ganz offenbar darum, den Elitendiskurs weiter nach rechts zu verschieben und dazu die Sprache zu kapern - mit Erfolg?

Auf der Diskursebene erleben wir deren Einflussstrategien ("Kampf um die Köpfe"), unter anderem geht es darum, im öffentlichen Raum Themen und Sendezeiten zu besetzen. CSU-Chef Horst Seehofer ist hier ein Beispiel, etwa wenn er von der "Herrschaft des Unrechts" spricht oder seinen "Masterplan" als Notanker offeriert. Thilo Sarrazin (SPD), der ehemalige Bundesbank-Vorstand, liefert ein weiteres Beispiel dafür, wie rassistische Argumentationsfiguren gesellschaftsfähig gemacht werden sollen.

Insoweit das Thema Migration gepaart mit den Themen Islam, Flucht und Kriminalität die öffentliche Debatte dominiert, begegnen wir laut Foroutan einem emotionalen Narrativ, das die Fragen nach struktureller Veränderung überlagert. Das genau, so lautet ihre Analyse, sei eine manipulative Strategie der Rechten, auf die wir alle hereingefallen sind. "Und ich fürchte", fügt sie hinzu, "da waren auch wir Sozialwissenschaftler zu lange auf einem Nebengleis unterwegs."