Overkill

Atombombentest Castle Bravo, 1954. Bild: public domain

USA geben Geheimdokumente zur Nuklearstrategie von 1964 frei

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Die genauen Pläne der US-Strategen, mit denen sie Anfang der 1960er Jahre einen Overkill des Ostblocks vorbereiteten, sind nach wie vor unter Verschluss. Dies gilt insbesondere für den Single Integrated Operational Plan (SIOP) für das Steuerjahr 1962 (SIOP-62), in dem der damals ranghöchste General Lyman Lewis Lemnitzer und der Air Force-Chef Curtis LeMay einen Überraschungsschlag empfahlen, um den Kommunismus ein für alle mal auszurotten (Vom Geheimkrieg zum Doomsday-Plan). Nunmehr jedoch haben die USA Dokumente von 1964 freigegeben, in welchen die Johnson-Administration ihre Strategie abstimmte.

Während in der unter John F. Kennedy beendeten Ära Lemnitzer ein nuklearer Vernichtungsangriff aus politischen Gründen erwogen wurde, hatte sich im September 1963 auch bei den Militärs die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine Reaktion auf einen Nuklearangriff nicht ohne inakzeptable Schäden eingedämmt werden könne. 1964 diskutierte man nun unter dem Eindruck der Kuba-Krise Szenarien, "die unter allen vernünftigerweise vorhersehbaren Bedingungen ausgeführt werden können, unter denen Feindseligkeiten beginnen können".

Konkret rechneten die Strategen mit der Gefahr eines sowjetischen Überraschungsangriffs gegen die Vereinigten Staaten. In einem solchen Fall wollte man einen Angriff mindestens vergelten, allerdings sahen die Strategen auch eine präventive Option vor, falls eine Nachrichtendienst-Warnung vor einem bevorstehenden sowjetischen Angriff eingehe und man dem Feind zuvorkommen könne.

In einem solchen Fall wäre keine Zeit mehr für eine individuelle Auswahl an Zielen gewesen, vielmehr entschied man sich zum nuklearen Overkill: Die Vernichtung des Lebensraums in der Sowjetunion – und gleichzeitig China, das mit Moskau paktierte. Um sicherzustellen, dass mindestens 95% des atomaren gegnerischen Potentials zerstört würden, sah man über 1.000 Ziele der sogenannten Kategorie "Alpha" vor. Auf jeden größeren sowjetischen Stützpunkt sollten jeweils acht 20-Megatonnen-Bomben geworfen werden. (Die Realität übertraf damit Stanley Kubricks Satire "Dr. Seltsam", der von jeweils drei Atombomben ausging.)

Während Verteidigungsminister McNamara die Ansicht vertrat, dass im Spannungsfall der Präsident improvisieren könne, favorisierten die Militärs klare Pläne. Der Automatismus eines totalen Overkills und die erhöhte Alarmbereitschaft steigerten damit dramatisch das Risiko eines "Atomkriegs aus Versehen", dass sich 1983 beinahe realisiert hätte (Um Haaresbreite). Die Militärs beanspruchten insbesondere die Kompetenz, selbst einen solchen Overkill befehlen zu dürfen, wenn der Präsident oder sein Stellvertreter im Fall eines Überraschungsangriffs nicht erreichbar waren ("Codename Furtherance, Top Secret" - Neun Jahre Bereitschaft zum nuklearen Erstschlag).

Aus historischer Perspektive allerdings gab es kein Risiko eines sowjetischen Überraschungsschlags, vielmehr handelte es sich beim nuklearen Potenzial des Warschauer Pakts um Zweitschlagswaffen. Politiker wie Alexei Kosygin lehnten sogar einen Präventivangriff bei drohendem gegnerischen Erstschlag ab.

Sowjetunion und China sollten als lebensfähige Gesellschaften zerstört werden

Der totale Overkill sah 1964 nach wie vor auch China als zu vernichtendes Ziel vor. Jeglichen Angriff wollte man zum Anlass nehmen, um den gesamten Sino-Sowjetischen Block auszulöschen. Einzig Jugoslawien, das sich nicht ganz so sehr an Moskau gebunden hatte, wäre nicht unmittelbar angegriffen worden, hätte jedoch den Fall Out der verstrahlten Nachbarländer abbekommen – sowie den nuklearen Winter, der allerdings erst Jahrzehnte später von der Wissenschaft vorausgesagt wurde.

Die Strategie sah wörtlich vor, die Sowjetunion und China als lebensfähige Gesellschaften zu vernichten. Daher hatte man neben den "Alpha"- und "Bravo"-Zielen (nukleare und nichtnukleare militärische Einrichtungen) explizit auch "Charlie"-Ziele vorbereitet, welche die Bevölkerung selbst betrafen.

Die Vernichtung der chinesischen Bevölkerung stellte die US-Militärs vor logistische Probleme, da 84% der Chinesen auf dem Land wohnten und es daher mit der Bombardierung von Städten nicht getan war. Daher plante man, wenigstens 50% der industriellen Fläche zu zerstören.

Mit gleichem Zynismus wollte man bereits in den 1950er Jahren gezielt Penicillin-Fabriken bombardieren, um die Bevölkerung zu dezimieren (Atombomben auf Ost-Berlin - USA geben geheime Liste nuklearer Ziele von 1956 frei). Die Vernichtung der zivilen Charlie-Ziele war insbesondere Aufgabe der U-Boot-gestützten Polaris-Raketen, die einen Zweitschlag garantierten.

Während Präsident Johnson die Militärs gewähren ließ und den Blutdurst seiner Generäle mit dem Vietnamkrieg stillte, bewies ausgerechnet sein umstrittener Nachfolger Richard Nixon Vernunft und Augenmaß. Als er als neuer Besitzer des nuklearen "Footballs" über die "Armageddon-Pläne" gebrieft wurde, reagierte Nixon hierauf angewidert. Tricky Dick erkannte, dass bei der Nuklearstrategie flexiblere und diplomatischere Optionen als die sofortige totale Vernichtung erforderlich waren. Bereits ab 1968 durfte bei der Vergeltung zwischen China und Russland wieder differenziert werden.

Vom Autor ist das Telepolis-eBook Cold War Leaks. Geheimnisvolles und Geheimdienstliches aus dem Kalten Krieg erschienen.