"Verschwörungstheoretiker spielen in derselben Liga wie Hellseher, Astrologen und Gurus"

Ein Interview über Verschwörungstheorien, den Zauber der Illusion und die Taktik der Kommunikationsguerilla mit den Mitgliedern des Autorenkollektivs Wu Ming

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Bei Wu Ming handelt es sich um ein 2000 gegründetes und ursprünglich aus fünf anonymen Personen bestehendes Autorenkollektiv, das sich den neuen sozialen Bewegungen zurechnet. Die Gruppe ging aus dem Luther Blissett Project hervor, in dem mit Praktiken der Kommunikationsguerilla experimentiert wurde - und das den international viel beachteten Roman Q verfasste.

Es ereignen sich derzeit merkwürdige Dinge in den sozialen Netzwerken, die von rechten Gruppen frequentiert werden, wie etwa 4chan - selbst wenn man die niedrigen Standards der extremen Rechten bedenkt. Eine bizarre Verschwörungstheorie, einfach "Q" oder QAnon genannt, gewinnt an Zugkraft. "Q" ist auch der Titel eines Ihrer bekanntesten Werke. "Q" behauptet auf 4chan unter anderem, dass Donald Trump als wahrer amerikanischer Held in einen titanischen Kampf gegen eine globale Verschwörung verwickelt ist, hinter der eine mächtige pädophile Organisation steht. Haben Sie als Wu Ming diese Verschwörungstheorie durch Taktiken der Kommunikationsguerilla provoziert?

Wu Ming: Wu Ming und die Wu Ming Stiftung machen keine Medienstreiche. Das war eine der Aktivitäten des Luther Blissett-Projekts (LBP), das vom Juni 1994 bis zum 31. Dezember 1999 aktiv war. Nach dem Ende des Projekts entwickelten sich alle Beteiligten weiter und gründeten neue Projekte und Kollektive.

Wu Ming ist der Name, der im Januar 2000 von den Autoren angenommen wurde, die unter dem Sammelbegriff Luther Blissett den Roman Q geschrieben hatten. Nach dem Ende des LBP und der globalen Wirkung von Q haben wir uns entschlossen, weiter mit der neuen Form und der metageschichtlichen Fiktion zu experimentieren. In den folgenden Jahren schrieben wir 54, Manituana, Altai, The Army of Sleepwalkers und in diesen Tagen beenden wir einen neuen Roman mit dem Titel Proletkult. Wir schrieben auch stark recherchierte, faktenreiche Werke, die man vereinfacht als kreative Sachbücher bezeichnen könnte. Wir selbst nennen sie "Unidentified Narrative Objects", UNOs.

In Italien hat sich eine Art "Fan-Aktivismus" rund um unsere Romane und UNOs entwickelt, eine riesige Community aus unserem Blog Giap und unserem Twitter-Profil, mit vielen Experimenten, transmedialem Storytelling, Kooperationsprojekten, offenen Workshops und Seminaren, neuen Blogs und Kollektiven, sogar neuen Bergsteigerclubs. Dieser Prozess hatte bereits in den 2000er Jahren begonnen, hat sich aber in den 2010er Jahren intensiviert und beschleunigt. Dieses "Kollektiv der Kollektive" nennen wir die Wu-Ming-Stiftung.

Wir sind in die internationale Debatte über den QAnon-Hoax eingestiegen, weil er viele Ähnlichkeiten mit der Arbeit des LBP und unserem alten Roman aufweist. Viele Leute haben uns in den letzten Wochen kontaktiert. Wir hatten schon vor dem Buzzfeed-Interview Dutzende von E-Mails und Twitter-DMs erhalten. Jeder, der unseren Roman gelesen und dann die Nachrichten über das QAnon-Phänomen gelesen hat, fand es offensichtlich, dass letzteres sich von ersteren inspirieren ließ. Man wollte wissen, was wir von der ganzen Sache halten.

Nicht nur die Verweise auf unseren Roman sind schwer zu übersehen - angefangen beim offensichtlichsten: "Q" selbst und seine Botschaften -, sondern auch die Ähnlichkeiten zwischen QAnon und der Art von Medienstreichen, die wir in den Luther Blissett-Tagen gespielt haben.

Können Sie uns die Taktik der Kommunikationsguerilla erklären, wie sie von Ihrer Gruppe erfunden wurde? Nennen Sie uns einige Beispiele.

Wu Ming: Wir sind nicht sicher, ob wir das erfunden haben, aber wir haben eine effektive Synthese von Strategien und Taktiken entwickelt, die wir "das Spielbuch" nennen. Was vor sich geht, ist wie eine verzerrte Version einiger dieser Taktiken, und es geht dabei auch die meisten der Probleme, die wir in Angriff genommen haben: Pädophilie, Satanismus, die Kirche, gefälschte Todesfälle und so weiter. Wir machten aufwendige Medienstreiche, um die Gefährlichkeit der großen Pädophilie-Angst zu demonstrieren, die Italien und Europa Mitte bis Ende der 90er Jahre im Griff hielt.

Andere Streiche waren Teil von Gegenuntersuchungen und Solidaritätskampagnen, um zu zeigen, dass einige Leute, die satanischer Rituale beschuldigt wurden, unschuldig waren. Wir haben auch vaticano.org online gestellt, eine fast identische Version der offiziellen Website des Vatikans, deren Domäne stattdessen vatican.va ist, mit einigen subtilen Änderungen, die die Besucher verwirren sollen. Wir haben das Verschwinden und den Tod imaginärer Berühmtheiten vorgetäuscht, wie der Künstler Harry Kipper und Darko Maver, die es eigentlich nie gab. Dabei haben wir uns Taktiken und Erzähltechniken zu eigen gemacht, die denen von Live-Action-Rollenspielen und alternativen Realitätsspielen sehr nahe kamen.

Dies alles wurde durch eine eklektische Theorie der "Mythopoese" zusammengehalten, d.h. wir wollten Mythen schaffen, gemeinschaftliche Erzählungen, die die kollektive Phantasie und Zusammenarbeit anregen würden. Der Mythos der Mythen war der Sammelbegriff "Luther Blissett" selbst, den wir uns von einem britischen Fußballspieler geliehen haben: Hunderte von Menschen übernahmen und teilten den Namen, um den öffentlichen Ruf eines imaginären Medienstreichers zu fördern.

Ohne den mythopoetischen Zweck könnte unsere Haupttätigkeit in den Blissett-Jahren als Fälschung komplexer Nachrichten abgetan werden. Darum ging es nie an sich. Unsere Medienstreiche hatten genaue Ziele: Erstens wurden sie immer gespielt, um das Bewusstsein für einige sensible Themen zu schärfen - und wie die Medien damit umgingen. Zweitens hatten die Streiche einen "erzieherischen" DIY-Aspekt (DIY: Do it yourself): Wir haben das Reverse Engineering immer selbst durchgeführt, indem wir öffentlich offenbarten, dass es sich um Streiche handelte und im Detail erklärten, welche kulturellen Automatismen und Fehler in dem von uns genutzten Informationssystem auftraten. Die Darstellung, wie wir den Streich gespielt haben, war wichtiger als der Streich selbst.

Schließlich trug jeder Streich zu Luther Blissetts mythischem Ruf bei und machte die Bezeichnung Luther Blissett interessanter und sympathischer. Durch die Übernahme des Mehrfachnamens fühlten sich die Aktivisten, die bei dem Projekt mitmachten, als Teil einer Gemeinschaft, Sie teilten einen bestimmten Stil, eine bestimmte Bildsprache, auch wenn sie die anderen Mitglieder oftmals nie getroffen haben.

Mariano Tomatis, ein Magier der Wu-Ming-Stiftung, sagt, dass es Wege geben könnte, den Trick hinter einem magischen Akt aufzudecken, der die Show nicht verderben, sondern noch magischer machen könnte. Das macht für uns einen guten Medienschwindel aus: ein magischer Akt, der von seinem eigenen Reverse Engineering profitiert. Heutzutage ist es einfacher als je zuvor, gefälschte Nachrichten zu verbreiten. Es wird immer schwieriger, dieses Gleichgewicht, diesen erzieherischen Aspekt, diesen Sinn für das gemeinsame Ziel, den Glauben, dass das kritische Denken nicht der Feind des Wunders ist, und umgekehrt zu bewahren.

"Alle drängten darauf, die Erzählung immer wilder, absurder, kantiger und erstaunlicher zu machen"

Können Sie sich vorstellen, dass linke Gruppen, beeinflusst durch Ihre Arbeit, QAnon erfunden haben? Was halten Sie von der Taktik, falsche, absurde Verschwörungstheorien innerhalb der extremen Rechten zu säen? Ist das legitim, um sie in Verlegenheit zu bringen, oder ist das zu problematisch - in Zeiten, in denen selbst die bizarrsten Lügen gerne akzeptiert werden?

Wu Ming: Lassen Sie uns versuchen, das Ganze zusammenzufassen: Wir vermuten, dass diejenigen, die QAnon begonnen haben, es als ein Experiment innerhalb der Rechten der USA intendierten, als einen politischen Schwindel, der sich - zumindest am Anfang - direkt von unserer Arbeit inspirieren ließ.

Sehr bald, aus mehreren Gründen, die alles andere als unberechenbar waren, erlangte der Hoax ein Eigenleben: Er wurde zu einer Art Nazi-LARP (Live-Rollenspiel), in dem die einflussreichsten Spieler den leichtgläubigsten Teil von Trumps Fanbasis triggerten. Dann drängten alle darauf, die Erzählung immer wilder, absurder, kantiger und erstaunlicher zu machen.

Diejenigen, die die QAnon-Erzählung vorantreiben, schlugen zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie verbreiten rassistische und faschistische Botschaften auf eine neuartige Art und Weise, während sie das Establishment und die Mainstream-Medien, die von den Alt-Rechten meist als "MSM" bezeichnet werden, ernsthaft verwirren und schockieren konnten. Die Experten und Wissenschaftler sind nun verblüfft, sie können nicht glauben, dass so viele Leute in der Lage sind, solch einen unglaublichen Schwachsinn zu glauben.

Auf manchen Ebenen ist es natürlich immer noch ein Streich, aber wer spielt ihn? Wer verarscht hier wen? Welchen kritische und radikale Intentionen QAnon am Anfang auch gehabt haben mag, sie sind nun unter dem verrückten weißen Herrenmenschen-Rauschen begraben worden. Man kann nicht wirklich Menschen trollen, die bereit sind, alles ausnutzen und zu instrumentalisieren, um ihren Feinden zu schaden. Du solltest niemals Leuten ein Seil geben, die dich hängen wollen, egal was passiert. In den USA gab es in den letzten Wochen mehrere Drohungen mit Waffengewalt im Namen von QAnon, und der Brandstifter, der angeklagt ist, Kaliforniens sogenanntes "Heiliges Feuer" gelegt zu haben, ist ein tollwütiger Konsument von QAnon-Schwachsinn. Die Situation ist sehr riskant.

Deshalb intervenierten wir, erklärten die Ähnlichkeiten zwischen QAnon und unserer Arbeit der 90er Jahre und schlugen vor, dass es als Streich begann. Es ist auch ein Weg, das Ganze - zumindest teilweise - zu entleeren und zu schwächen. Und tatsächlich haben wir es geschafft, ein wenig Verwirrung in den Alt-Rechts-Foren zu verbreiten, und einige rechtsgerichtete Online-Foren leugnen inzwischen auch QAnon, weil sie sagen, dass es sie wie "einen Haufen Idioten" aussehen ließe.

Eines ist sicher: Wenn ein Roman einen solchen Tsunami auslösen kann, bedeutet das, dass die Literatur immer noch relevant ist.

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