Türkei: Angriff auf die Mütter

Am Samstag griff die Istanbuler Polizei eine Demonstration von Müttern an, deren Söhne verschwunden sind. Es gab zahlreiche Festnahmen

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Jeder in Istanbul kennt sie: Die Cumartesi Anneleri - die Samstagsmütter. Seit 23 Jahren versammeln sie sich, seit 2009 wieder wöchentlich, am zentral gelegenen Galatasaray-Platz. Sie wollen vom Staat erfahren, wo ihre Söhne sind. Die meisten verschwanden in den Achtzigern spurlos. Von einigen erfuhr man später, dass sie in den Folterkellern von Polizei und Geheimdienst starben. Über andere gibt es bis heute keinerlei Informationen. Vielen der Mütter geht es nur noch darum, Gewissheit zu bekommen und ihre Kinder würdig begraben zu können.

Mehrere Regierungen mauerten und verweigerten jede Antwort. Ende der Neunziger wurden die friedlichen Demos gewaltsam aufgelöst. Die AKP ließ sie in den letzten Jahren gewähren, interessierte sich aber ebenso wenig für Aufklärung. Seit Beginn der Massenverhaftungen im Sommer 2016 kehrte das grauenvolle Phänomen allerdings zurück. Seither gibt es mehrere dokumentierte Fällen von Menschen, die spurlos verschwanden. Deren Angehörige vermuten, dass sie von den Behörden entführt oder ermordet wurden.

Außerdem gab es bereits mehrere Todesfälle in Gefängnissen. Erst in der vergangenen Woche starb der Akademiker Sabri Colak im Alter von 69 Jahren an einem Herzinfarkt in Haft. Ihm war, wie Zehntausenden anderen auch, Nähe zur Gülen-Bewegung vorgeworfen worden. Die medizinische Betreuung in den Haftanstalten ist schlecht, immer wieder werden den Häftlingen wichtige Medikamente verweigert - das berichtete auch die inzwischen nach Deutschland geflüchtete Autorin Asli Erdogan. Colak soll schon länger an Herzproblemen gelitten haben.

Vorwurf: "Nähe zur PKK"

Am vergangenen Samstag versammelten sich die Samstagsmütter zu ihrer 700. Demonstration. Wie immer hatten sie Fotos ihrer verschwundenen Kinder dabei. Doch diesmal intervenierte die Polizei, griff die Frauen mit Schlagstöcken und Tränengas an. Der Einsatz wurde mit einer Nähe der Demonstrantinnen zur PKK begründet, was im Kontext des Geschehens absurd anmutet.

Doch derartige Begründungen sind im türkischen Polizeistaat heute Alltag. Der größte Teil der seit Jahren andauernden Repressionen wird mit vermeintlicher Nähe der Festgenommenen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung begründet, inhaltlich seriöse Anklagen gibt es kaum noch.

Fast fünfzig Personen wurden festgenommen, darunter auch Emine Ocak (82), deren Sohn Hasan in den Neunzigern unter Folter starb und anonym verscharrt wurde. Ebenfalls festgenommen wurde Arat Dink, Sohn des 2007 von Nationalisten ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink. Mehrere Abgeordnete der Oppositionspartei HDP intervenierten gegen den Polizeieinsatz, auch der ehemalige Investigativjournalist Ahmet Sik. Die meisten Personen wurden inzwischen wieder freigelassen, es ist aber zu erwarten, dass Anklagen folgen werden.

Der Angriff auf die Samstagsmütter ist ein besonders perfides Beispiel für die brutale Willkür des Erdogan-Staates, der immer härter gegen Kritiker und Abweichler vorgeht. Beobachter werden an die Maßnahmen des Militärregimes in der Achtziger Jahren erinnert. Amnesty International verurteilte das Vorgehen der Polizei. Unklar ist, ob die Versammlungen der Samstagsmütter unter diesen Umständen fortgesetzt werden können.