Das lustlose Ende der sexuellen Revolution

Schlafender Hermaphrodit. Marmorne Reproduktion eines griechischen Bronze-Originals im Louvre. Bild: InSapphoWeTrust / CC-BY-SA-2.0

Mit dem Kinsey-Report kam vor 70 Jahren die Sexualität in der Gesellschaft an - Teil 2

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Teil 1: Die Vermessung der Geschlechterwelt

Die an der sexuellen Potenz beteiligten Drüsen sind: Hirnanhang, Schilddrüse, Nebenniere, Vorsteherdrüse, Samenblase und Nebenhoden. In diesem System überwiegt die Keimdrüse. Durch den von ihr bereiteten Stoff wird der gesamte Sexualapparat von der Hirnrinde bis zum Genitale geladen. (...) Der Strom wandert als erotische Erregung von der Hirnrinde zum Schaltzentrum im Zwischenhirn. Dann rollt die Erregung zum Rückenmark hinab. Nicht ungehemmt, denn ehe sie das Gehirn verlässt, muss sie die Bremsfedern der Hemmungen passieren, (...) die als Moralbedenken, Mangel an Selbstvertrauen, Angst vor Blamage, Ansteckungs- und Schwängerungsfurcht (...) eine große Rolle spielen.

...schreibt der Autor und Nervenarzt Alfred Döblin, dessen Romanheld Franz Biberkopf seinen eigenen Trieben unterliegt. Der Schwung von der exakten Beschreibung zu den schwer fassbaren angstbesetzten Befindlichkeiten ist zu kühn, um ernst genommen zu werden, aber offensichtlich bestand schon in den Zwanziger Jahren eine Spannung aus positiver Wissenschaft auf der einen und unbestimmten psychotischen sowie neurotischen Symptomen auf der anderen Seite. Die nervöse Stimmung lag in der Luft und ergriff mehr und mehr Schichten der Gesellschaft.

Wenn es um die Deutung von Sexualität geht, um die Aussprache von traditionell Unaussprechlichem, hat jede Zeit ihre eigenen Geschichten. "Telling Sexual Stories" nennt es Ken Plummer. Die Einstellung zur Onanie spiegelt den gesellschaftlichen Wandel. Ende der 60er Jahre verlor sie, begünstigt durch Kinseys Studien, das Odium der Ersatzhandlung und wurde zu einer eigenständigen Form der Sexualität. Das ging so weit, dass sie nicht mehr als Kompensation einer realen Partnerschaft gedeutet wurde, sondern als Zeichen steigender Unabhängigkeit innerhalb und während einer Beziehung. Erwin Haeberle kann sich sogar Masturbation vor dem Partner/der Partnerin vorstellen.

Am Anfang war Erziehung, wie ein Buchtitel von Alice Miller heißt, die das 19. Jahrhundert als das der Schwarzen Pädagogik darstellt. Erziehung beruhte auf Gewalt und Drohungen. Auf Onanie stand der Tod, wenn Vorhersagen dieser Art den Heranwachsenden auch mehr informell mitgeteilt wurden. Zum 20. Jahrhundert hin wurde es dann "wissenschaftlicher", und die Folgen ermäßigten sich zu Zerfallsprozessen des Körpers wie Rückenmarksschwindsucht oder zu Geisteskrankheit.

Der historische Exkurs bringt Vorläufer von Kinsey ins Spiel, die die moderne Sexualwissenschaft begründet haben. Wilhelm Reich (1897-1957) nahm eine mittlere Stellung zur Onanie ein. Sie sei akzeptabel, wenn sie frei von Schuldkomplexen ausgeübt wird. Wenn sie jedoch durch die Beendigung einer Partnerschaft ausgelöst wird, kann der reale Verlust in eine Phantasietätigkeit umschlagen, die in neurotische und zwanghafte Bahnen gelenkt wird. Freud dachte ähnlich über "Auto-Erotik".

Reich suchte in seiner "Sexualökonomie" die patriarchalische kapitalistische Gesellschaft in Relation zum Triebleben der Massen zu setzen, die entgegen kommunistischer Logik um 1933 in Scharen zur Ideologie des Faschismus überliefen. Wie sich das materielle, nach Revolution drängende Sein in ein falsches Bewusstsein in den Köpfen der Arbeiter umsetzen könnte, das wird schon an einem einfachen Satz deutlich, der die Ungleichzeitigkeiten berücksichtigt: Hunger betrifft nur Proletarierkinder, während Sexualunterdrückung alle betrifft. - Das Bewusstsein wird unzeitgemäß. Eine "Schere" öffnet sich zur ökonomischen Entwicklung.

Autoritäre Strukturen, die im Schwinden begriffen sind, leben in der Triebunterdrückung fort. Die Repression kann auch die Form der Selbstkontrolle annehmen. Reich fordert, die patriarchalische Kultur so umzugestalten, dass der seelische Haushalt fähig wird, von sich aus die sexuellen Bedürfnisse zu bejahen.

Der in Wien zum Psychoanalytiker ausgebildete Wilhelm Reich kam 1931 nach Berlin, wo er den Verband für Proletarische Sexualpolitik, kurz: "Sexpol" aufbaute und am Psychoanalytischen Institut unterrichtete. Die Sexualforschung war in der Stadt bereits seit 1919 institutionalisiert, im von Magnus Hirschfeld gegründeten Institut für Sexualwissenschaft.

Vom Dritten Geschlecht zur Sexualreparatur

Hirschfeld (1868-1935) setzte sich für die Aufhebung des § 175 ein. Zur fiebernden Großstadt Berlin, auf deren Asphalt die verschiedensten Schichten und Typen hart aufschlugen und sich bis zur Unkenntlichkeit miteinander mischten, passt Hirschfelds Theorie des Dritten Geschlechts, die er ebenso wie den Begriff "Urninge" für Homosexuelle von Karl Heinrich Ulrichs übernommen und ausgebaut hatte. Nach Hirschfeld entwickeln sich ontogenetisch im Embryo zunächst die männlichen und weiblichen Anlagen gleichermaßen.

Leonardo da Vinci: Anatomische Studie. Zeichnung, ca. 1492. Bild: Public Domain

Wenn sich nach der Geburt allmählich ein bestimmtes Geschlecht herausschält, könnte jedoch durch eine Fehlfunktion der Nebennierendrüsen eine Unterdrückung der komplementären Geschlechtsmerkmale ausbleiben. Der Hermaphrodit hat sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsorgane ausgebildet. Die Frage, ob Hermaphroditen schwanger werden und ob sie ihrerseits schwängern können, erhellt Hirschfeld durch folgenden Fall:

Eine 24jährige Dame wohnte in einer New Yorker Pension, wo sie mit einem 50jährigen Mann, der eine 18jährige Tochter hatte, ein Verhältnis einging. Sie wurde durch ihn geschwängert und gebar ein Kind. Zugleich verliebte sie sich in die Tochter und knüpfte Beziehungen mit ihr an. Die Tochter wurde dann von der jungen Frau geschwängert und bekam gleichfalls ein Kind.

Auf die biologische Theorie baut Hirschfeld eine kulturelle. Die Ausgangslage männlicher und weiblicher Merkmale bleibt im Erwachsenenalter mehr oder minder latent erhalten, so dass das Geschlechterspektrum sich zwischen maskulinen Frauen und femininen Männern erstreckt. Individuell kann die Mischung sehr verschieden sein, aber insgesamt ist Homosexualität unter allen Menschen gleich verteilt. Es liest sich so, als würde Hirschfelds Theorie Kinseys Befunde untermauern, wonach alle Sexualpraktiken und Neigungen sich gesamtgesellschaftlich untereinander vermengen.

Aus Hirschfelds Theorie ist heute Common sense geworden. Transgender steht für gefühlte, gedachte oder medizinisch herbeigeführte Geschlechtsumwandlungen, genauer Angleichungen. Die willentlichen Eingriffe in die Biologie sind nicht gegen sie gerichtet. Aber sie ist nicht mehr "Schicksal". Sexualität ist sozial kodiert und kann nach Wunsch designt werden. Das Geschlecht wird wählbar. Entsprechende Operationen bergen jedoch Risiken. Das Thema eignet sich nicht für einen Medienhype.

Weniger als Sozialreformer, mehr als Retter der bürgerlichen Ehe trat der holländische Arzt Hendrik van de Velde 1926 an. Die größte Gefahr der Ehe sei Langeweile. Dagegen helfen nur Varianten des Geschlechtsgenusses, die er in seinem Band "Die vollkommene Ehe" frei nach dem Kamasutra empfahl. Das Buch lag in erreichbarer Nähe jedes besseren deutschen Bettes. Er war ein Vorläufer von Oswalt Kolle.

Die sexuelle Revolution, die bereits in den frühen 60er Jahren der Ehe den Teppich unter den Füßen wegzog, begann als technische Innovation. Die "Pille" bot einen Verhütungskomfort, der die Angst vor ungewollter Schwangerschaft nahm und die Zahl illegaler Abtreibungen reduzierte, die in der Weimarer Zeit jedes Jahr Tausende von Frauen dahingerafft hatten.

Der lustvolle Akt und die Zeugung wurden entkoppelt. Die Erotik erlebte einen Inflationsschub, der über die Ehe hinaus trieb. Folgerichtig wankte auch der Kuppelei-Paragraph, der jedem, auch den Eltern, verbot, einem unverheirateten Liebespaar einen Raum zur Verfügung zu stellen. In der DDR wurde der Paragraph bereits 1968 abgeschafft, in Westdeutschland 1973. Die normative Sexualmoral, welche die Partner möglichst ein Leben lang aneinander band, wurde durch eine "Verhandlungsmoral" abgelöst.

Die Untersuchungen im Sinne Kinseys wurden fragmentarisch weitergeführt und bekamen doch einen anderen Tenor. Aus Kinseys quantifizierenden Erhebungen wurden Kompendien über Sexualtechniken. Geboten wurden "Werkzeugkästen" zur Sexualreparatur. Die Kunstfliegerin Beate Uhse startete in den 60er Jahren durch mit stimulierendem Sex-Zubehör. Ein neuer Markt für Sexualtherapien bildete sich.

Wenn der "neue Kinsey Report" von 1990 die Behauptung aufstellt, es habe in den Jahrzehnten davor eine Psychologisierung des Soma stattgefunden, dürfte auf die amerikanische Sexualforschung jener Zeit eher das Gegenteil zutreffen: die Somatisierung der Psyche. Daran ändert auch nichts, dass Masters und Johnson Streichelkurse anboten, weil sie festgestellt hatten, dass in dem ganzen Komplex die Zärtlichkeit auf der Strecke geblieben war. Die Jagd nach dem G-Punkt und anderen unentdeckten erogenen Zonen hatte begonnen.

Wer nicht fündig wurde, dem konnte geholfen werden1:

Der aufblasbare Implantat-Typ besteht aus zwei Silikonzylindern, die in die Schwellkörper des Penis eingesetzt werden: von ihnen führen kleine Schläuche und eine Pumpe zu einem kleinen Ballon im Unterleib. In diesem Ballon befindet sich eine Flüssigkeit, die in die Zylinder fließt, sobald der Mann eine Pumpe bedient, die in seinem Hodensack hängt. Wenn der Mann keine Erektion mehr benötigt, öffnet er ein kleines Ventil an der Pumpe. Daraufhin erschlaffen die Zylinder im Penis, und die Flüssigkeit strömt in den Ballon zurück.