Ein Staat, eine Sprache, eine Nation - und die Kurden

Bild: Bertil Videt/CC By-SA-2.5

Die Verfolgung der Kurden wurzelt in der Gründungsgeschichte der Türkei, der eigentliche Putsch fand dort schon 1915 statt

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Als wir uns in Duisburg treffen, wird der Politikwissenschaftler und Historiker Ismail Küpeli gleich emotional. Es nimmt ihn mit, immer noch, was die junge Republik Türkei mit Menschen gemacht hat, die keine Türken waren und auch keine werden wollten. "Es ging gar nicht nur um die Kurden", sagt er. "Es ging um die Idee der Türkei als Nationalstaat."

Das Wort Gewalt ist viel zu schwach, um zu beschreiben, wie diese Idee Realität wurde. Ismail Küpeli erzählt von den Jungtürken, ab 1908 an der Macht, durch Bildung aufgestiegen in den Bürokratien und von dem Gedanken beseelt, dass ein türkischer Nationalstaat die beste Medizin ist für das schwächelnde Osmanische Reich. Er erzählt vom Genozid an den Armeniern und von den Versuchen, die muslimische Bevölkerung zu türkisieren.1

Bei Küpeli führt von da eine direkte Linie zu Mustafa Kemal und seinem Befreiungskrieg, zur Vertreibung der Christen, aus Westanatolien zum Beispiel und aus Thrakien. "Das alles wurde von den muslimischen Eliten und der muslimischen Bevölkerung getragen. Auch der Genozid 1915. Mit der Gründung der Republik 1923 wird diese muslimische Einheit abgelöst durch die Vorstellung von einer einheitlichen türkischen Nation. Von einer Nation, neben der es keinen Platz gibt für andere Gruppen."

Ein Staat, eine Flagge, eine Sprache, eine Nation: Das ist die Antwort Mustafa Kemals auf den Niedergang des Osmanischen Reichs. Eine Nation, von oben zu schaffen, von ihm zu schaffen, damit diese Türkei so bleiben kann, wie sie ist, und nicht weiter Region um Region verliert. Eine Nation, die so stark ist wie Frankreich. Ankara soll das Paris der Türkei werden. Eine Zentrale, die bis in den letzten Winkel Ostanatoliens hineinregiert und keine Herren neben sich duldet, auch die Führer der kurdischen Stämme nicht, die im Osmanischen Reich meist machen konnten, was sie wollten. Istanbul war weit, die Kontrolle schwach und die Grenze zu den Persern nicht das, was man heute Grenze nennt. Kein Schlagbaum, keine Wache, nicht einmal ein Pfahl, der Achtung ruft.2

Der Nationalstaat mit festen, oft schwer durchlässigen Grenzen wird erst genau in diesem Moment "die legitime internationale Norm", mit dem Abtritt der Habsburger und der Hohenzollern, der Romanows und der Ottomanen, mit dem Völkerbund, der auf Englisch League of Nations heißt und in dem auch die Kolonialmächte in "Nationaltracht" auftreten "und nicht in der imperialen Uniform".3

Die Nation ist für Mustafa Kemal wichtiger als der Glaube, einerseits. Da ist die Buchstabenrevolution, verkündet 1928 vom Präsidenten höchstselbst. Weg mit der arabischen Schrift, weg mit einer jahrhundertealten Tradition. Der Vater aller Türken weiß, dass jede Nation auf Sprache baut. 1932 wird ein Institut für türkische Sprache gegründet, das nach arabischen und nach persischen Wörtern fahndet und neue Wörter erfindet. Türkisch pur, wenn man so will, eine Sprache, die in der Presse sowie in Schulen der Nation verkündet wird (die heißen tatsächlich so), eine Sprache, die manchmal auch Französisch klingt. Zur Hose sagt man Pantalon und zum Aufzug Asansör.

Andererseits ist das, was die Kemalisten fast zeitgleich als Säkularisierung und Laizismus verkaufen, als Trennung von Staat und Religion, als Neutralität in Sachen Religion, eher das Gegenteil - die Verstaatlichung der Religion. 1924 verschwinden islamische Gerichte, islamische Schulen und das Kalifat. Vier Jahre später streicht die Türkei den Islam als Staatsreligion aus der Verfassung.4

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch Die Kurden. Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion von Kerem Schamberger und Michael Meyen. Sie zeigen darin, wie ein 25-Millionen-Volk im Stich gelassen und zum Spielball der Mähte wird, weil der Westen sein Bündnis mit dem Erdogan-Regime nicht gefährden will.

Seit 1924 gibt es aber auch das Diyanet, das Präsidium für Religionsangelegenheiten, das dem Ministerpräsidenten untersteht und die Imame in den Moscheen zu Beamten macht. Das heißt: Der Staat sagt, wie die Religion zu praktizieren ist, in welcher Kleidung beispielsweise. Religiöse Gewänder, Fes (die orientalische Kopfbedeckung aus Filz, meist rot, mit flachem Deckel), Kopftuch, Schleier? Rückständig. Allenfalls noch geduldet in der neuen Türkei. Mann hatte Hut zu tragen, wie überall in der modernen Welt.

"Die Kurden waren das größte Hindernis", sagt Ismail Küpeli. "Sie waren eindeutig anders und vor allem nicht türkisch. Sie haben andere Sprachen gesprochen. Und sie waren zu stark, um mit ihnen das Gleiche zu machen wie mit den Armeniern oder wie mit den Griechen, mit den Tscherkessen, mit den Aussiedlern aus Osteuropa. All diese Gruppen sind nach und nach verschwunden. Die Türken waren ja lange in vielen Gebieten eine Minderheit. Die Kurden waren wichtig im alten Reich, im Machtkampf mit den Persern. Ihre Eliten waren politisch und militärisch erfahren. Und sie stellten die Mehrheit im Osten des Landes."

Wer verstehen will, wie die Türkei auf dieses große Hindernis losgegangen ist, muss beides sehen: das Trauma, das aus dem Schrumpfen des alten Reichs wächst, und die Angst, die eine Volksgruppe wie die Kurden deshalb allein ob ihrer schieren Größe verbreiten kann.

Also: Kein Nationalbewusstsein zulassen, um keinen Preis. Alles verbieten, was nach kurdischer Identität aussieht. Kurdische Namen zum Beispiel (vor allem solche, die auf "o" enden) und sogar die Pluderhosen, bequem gerade in den Bergen. Mit aller Macht türkifizieren. Über die Schulen natürlich. Plätze, Dörfer und Berge umbenennen. Die neue Ideologie und die neue Sprache verbreiten, wo immer es geht.

Kardo Bokani hat in seinem Buch ein Foto aus jenen Tagen: ein Fels irgendwo in Ostanatolien mit Halbmond, Stern und einem Slogan: Ne mutlu türküm diyene. Glücklich derjenige, der sagt: Ich bin ein Türke. So weit oben und so groß, dass man es kilometerweit lesen kann. Dieser Slogan ziert bis heute jede kurdische Stadt in der Türkei, genau wie sein Urheber Mustafa Kemal, in Stein gegossen.

"Zur türkischen Republik gehört der Versuch, die kurdische Identität auszulöschen", sagt Ismail Küpeli. "Schon immer, von Anfang an." Zu dieser Republik gehört auch ein Angebot an die kurdischen Eliten. In einem der Texte von Ismail Küpeli heißt das "unausgesprochene Kompromissformel".5 Wir lassen euch ein wenig von eurer Macht daheim, als Abgeordnete etwa oder in den Verwaltungen, wenn ihr denn loyal seid zum neuen Staat. Wenn ihr vor allem nicht an Atatürks Formel von der einen und einzigen Türkei rüttelt. Wenn ihr also nicht von den Kurden sprecht. Sonst? Das werdet ihr schon sehen. Gestützt wird diese Homogenisierungspolitik über ein eingängiges Narrativ: ohne nationale Einheit keine Modernisierung, kein Aufschließen an die zivilisierten Länder des Westens.

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