"Die Gewalt ist in den Banlieues zur Routine geworden"

Symbolbild: CC0

Stefan Zenklusen über den Alltag in den französischen Vorstädten und Massensiedlungen

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Nach Stefan Zenklusen weist der öffentliche Diskurs über die Banlieues in Frankreich verschiedene blinde Flecken auf. Ein Gespräch zu seinem Buch Islamismus und Kollaboration - Teil 1.

Herr Zenklusen, Sie schreiben in Ihrem Buch, dass fünfundachtzig Prozent der Armen in Frankreich nicht in den Banlieues, sondern auf dem Land leben. Wo haben Sie diese Zahl her?

Stefan Zenklusen: Diese Zahl präsentiert der Sozialgeograph Christophe Guilluy als Ergebnis seiner Forschungen.

Spielt diese Zahl in den öffentlichen und sozialwissenschaftlichen Debatten eine Rolle?

Stefan Zenklusen: Die Forschungen von Guilluy wurden in der Wissenschaft unterschiedlich aufgenommen. Vereinzelt wurde ihm vorgeworfen, in erster Linie Politik zu betreiben, was sicherlich unhaltbar ist. In den Medien ist Guilluy durchaus präsent. Allerdings ist zu betonen, dass Wissenschaftler wie Guilluy, die gewisse Fragen aufwerfen, die als störend empfunden werden, in Frankreich sehr lange Zeit beschwiegen wurden.

"Das Hauptaugenmerk wurde meist auf die Banlieues gelegt"

Was unterscheidet den Forschungsansatz von Guilluy von denen anderer Wissenschaftler?

Stefan Zenklusen: Seine Originalität besteht vor allem in der Einteilung des Landes in ein Frankreich der Metropolen und dem peripheren Frankreich. Damit widerspricht Guilluy der ausgeprägten Tendenz vieler Sozialgeographen, Frankreich in Metropolregionen aufzuteilen, die immer größer werden. Das nationale Statistikinstitut INSSE vertrat 2001 die These, fünfundneunzig Prozent der Franzosen wohnten im Einflussbereich von Städten. Das würde die Sichtweise bestärken, dass Frankreich immer urbaner und integrierter ist, dass die Mehrzahl der Franzosen im Einflussbereich großer Städte wohnen und von dem "Trickle Down" der Metropolen profitieren. Das Hauptaugenmerk in Fragen der sozialen Deklassierung wurde dann meist auf die Banlieues gelegt.

Und Guilluy sieht das anders?

Stefan Zenklusen: Genau. Guilluys sozioökonomische Karte Frankreichs sieht anders aus. Anhand von verschiedenen sozialökonomischen Variabeln konstruiert Guilluy das Bild eines Landes, das nicht zwischen Stadt und Land unterscheidet, sondern zwischen Bewohnern von soziökonomisch "fragilen", abgehängten Gebieten, die rund 60% der Einwohner umfassen, und denjenigen Teilen des Landes, die in einer Metropolregion eingebunden sind. Das Besondere daran ist, dass die sonst übliche Fokussierung auf die Banlieue stark relativiert wird. Die Bewohner des peripheren Frankreichs sind die eigentlichen Verlierer der sozialökonomischen Entwicklung im Rahmen der Globalisierung. Demgegenüber befinden sich die Banlieues in einem Raum mit vielen Arbeitsplätzen, es ist eine nicht zu unterschätzende soziale und geographische Mobilität zu verzeichnen.

"Der Aufruf der Bobos ist scheinheilig"

Gibt es weitere Unterschiede in der Forschung Guilluys?

Stefan Zenklusen: Guilluys Ansatz hat auch eine aufklärerisch-politische Dimension. Er wirft den "Bobos" (für "Bourgeois-Bohèmes"), also dem sozialliberalen Bürgertum der Großstädte vor, die Problematik des peripheren Frankreichs geleugnet oder unterschätzt zu haben. Nicht zuletzt, weil es im peripheren Frankreich viele Front National-Wähler gibt, würden dessen Bewohner als provinzielle Ignoranten karikiert. In Wirklichkeit, so Guilluy, seien es aber oft gerade diese Menschen, die auf handfeste Weise mit den Folgen der Globalisierung und der Immigration konfrontiert werden oder wurden.

Anders die dominierenden Schichten aus den Großstädten, die auf der Welle der Globalisierung surfen können, die Ressourcen haben, den negativen Folgen der Immigration zu entgehen und die sich ja auch fast ausschließlich innerhalb der eigenen "Kaste" oder Klasse bewegen. Insofern ist der permanente Aufruf der Bobos, sich dem "Anderen", der "Alterität" zu öffnen, scheinheilig, da sie selber selten aus ihrem soziokulturellen Kontext ausbrechen. Die Öffnung gegenüber der Alterität, die das sozialliberale Bürgertum betreibt, spielt sich sozusagen im Luxussegment ab.

Guilluy betont auch das durchaus rationale, pragmatische Denken der Bewohner der France périphérique und greift die in Paris üblich gewordene Terminologie an, die man dieser Bevölkerung angedeihen lässt: "irrational", "rassistisch", "modernitätsfeindlich", "ressentimentgeleitet" und so weiter. In dieser Hinsicht würden sich die linksliberalen Führungsschichten der Städte wie das einstige traditionelle Bürgertum verhalten und ebenfalls ein Zerrbild der gefährlichen Klassen konstruieren.

Wie erklären Sie die Konzentration von Aufständen und Gewalt in den Banlieues?

Stefan Zenklusen: Zuerst ist festzuhalten, dass die Banlieues in Frankreich eine vollkommen andere Geschichte haben als die Ghettos der Schwarzen in den USA - das hat der Bourdieuschüler Loïc Wacquant klar herausgearbeitet. Die Ghettos in den USA waren von Beginn weg eine gleichsam rassisch vordefinierte Institution, die fast ausschließlich von Schwarzen bewohnt werden. Demgegenüber boten die Banlieues damals den Arbeitern und dem Mittelstand eher europäischen Ursprungs die Möglichkeit, den schwierigen Wohnbedingungen in den Innenstädten zu entkommen.

Was nun die Gewalt angeht, so ist selbst vielen Franzosen nicht bekannt, dass sie in den Banlieues sozusagen zur Routine geworden ist. Es gibt fast täglich Auseinandersetzungen mit der Polizei. Doch um auf dem Laufenden zu bleiben, muss man die Regionalpresse lesen, da kleinere Scharmützel in den Medien mit nationaler Ausstrahlung gar nicht mehr gemeldet werden.

Sind das denn überhaupt Aufstände?

Stefan Zenklusen: In den meisten Fällen kann meines Erachtens nicht von sozialen Aufständen mit politischem Charakter gesprochen werden. Es werden ja nicht nur Polizisten angegriffen, sondern auch Pfleger, Ärzte, Feuerwehrmänner, Juden, Frauen, Schwule. Es werden Kindergärten, Schulen und Bibliotheken angezündet. Jährlich brennen über 40 000 Autos, die mehrheitlich den Banlieue-Bewohnern gehören.

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