Ein kommender Aufstand? Sarah Wagenknecht startet "Aufstehen"

Bild: M. Daniljuk

Offenheit und Beteiligung für die normale Bevölkerung: Mit diesen Grundsätzen tritt die Sammlungsbewegung an, um die Politik in Deutschland zu verändern

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Kaum war die Bewegung offiziell gestartet, gingen die Server in die Knie. Auf der Homepage der Bewegung #aufstehen sollte am Dienstagmittag die Software Polis damit beginnen, die Kritiken und Meinungen der Aktivisten zu erfassen. Aber das Tool, das aus der Occupy-Bewegung in den USA entwickelt wurde, bewältigte die große Nachfrage nicht. In der folgenden Nacht setzte die gesamte Homepage den Dienst aus.

Als Sarah Wagenknecht und Bernd Stegemann am Dienstag die neue Bewegung in der Räumen der Bundespressekonferenz vorstellten, zeichneten sich schnell diese beiden Eckpunkte ab: Das öffentliche Interesse an dem Projekt ist enorm, und die Initiatoren wollen die Inhalte nicht zentral vorgeben, sondern den Bürgern die Instrumente in Hand geben, sich selbst zu artikulieren.

Bis zu diesem 4. September haben sich 101.741 Interessierte gemeldet, also deutlich mehr als Grüne oder Die Linke an Mitgliedern aufweisen können. Auch wenn sich möglicherweise nicht alle Interessierten zukünftig in Aktivisten verwandeln, der Zusammenbruch der Server scheint zu bestätigen, dass #aufstehen in eine riesiges politisches Vakuum vorstößt. Als die Fraktionsvorsitzende der Linken die inhaltlichen Eckpunkte vor den Hauptstadtpresse präsentiert, zeigt sich schnell, dass #aufstehen in vielerlei Hinsicht außerhalb des zeitgenössischen Mainstreams im politischen Berlin liegt.

Sarah Wagenknecht spricht die Ohnmacht an, die viele Menschen im Land empfinden. Große Teile der Bevölkerung sehen sich durch die herrschende Politik nicht mehr vertreten. Und Wagenknecht setzt die soziale Ungleichheit auf die Agenda. Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung, verweist Wagenknecht auf das DIW, verfügen heute über weniger Realeinkommen als vor 20 Jahren. Die soziale Ungleichheit und der Ausschluss ganzer Bevölkerungsteile verschärfe sich. Gemeinsam mit 80 Initiatoren habe man deshalb einen Gründungsaufruf verfasst, das Echo sei "überwältigend".

"Eine politische Kultur des Zuhörens"

Dass diese Gruppe nicht von oben das Programm vorgibt, betont der Dramaturg des Berliner Ensembles, Bernd Stegemann. Ihm gehe es der bei Bewegung darum, dass man den Menschen besser zuhöre, der Bevölkerung ihre Stimme zurückgebe. "Wir wollen andere, rationale Wege der politischen Lösung finden", so Stegemann, und verweist gleich auf das Thema Flucht und Migration. Die politische Debatte bewege sich gegenwärtig zwischen den extremen Polen des Ressentiments und der "überschäumenden Moral". Beide Positionen würden nichts zur Lösung beitragen, er erhofft sich von der Sammelbewegung "komplett andere Lösungen".

Mit Simone Lange, der SPD-Oberbürgermeisterin von Flensburg, und dem ehemaligen grünen Staatsminister Ludger Volmer hat die Sammelbewegung prominente Dissidenten aus den anderen beiden Parteien links der Mitte. Simone Lange warnt aus ihrer Erfahrung, die Anzahl der Menschen, "die sich abgemeldet" haben, die zeigen sich auf der Straße. Dies betrifft etwa die Zahl der Obdachlosen oder derjenigen, die sich nicht mehr am politischen System beteiligen. Die Parteien links der Mitte müssten endlich damit aufhören, sich gegenseitig Knüppel zwischen die Beine zu werfen, appelliert Simone Lange, die darauf verweist, dass inzwischen eine antidemokratische Partei Oppositionsführer sei.

Der ehemalige Mitbegründer der Grünen, Ludger Volmer, verweist deutlich auf die Schwächen des Rot-Rot-Grünen Lagers: Seine eigene Partei habe inzwischen fast ein liberal-konservatives Profil, aber auch das Erstarken der rechten Bewegungen habe ihn bewegt, sich #aufstehen anzuschließen. Große Teile der Grünen hätten Pazifismus und soziale Orientierung aufgegeben, dies sei für ihn der Grund, nach 13 Jahren wieder in die aktive Politik einzusteigen. Inzwischen, konstatiert Volmer, fehle das Bemühen um Resonanz, eine politische Kultur des Zuhörens. Er verbindet mit #aufstehen das Ziel, die normalen Menschen dazu in die Lage zu versetzen, sich einzubringen. Er spricht von einer Dialog-Strategie, mit der Protest in neue politische Lösungen umgesetzt werden könne.

An dieser Stelle kommt Polis ins Spiel: Hans Albers, einer der Initiatoren, verweist auf die Software, die bei den Occupy-Protesten entwickelt wurde, um in großen Gruppen inhaltliche Abstimmungen zu organisieren. Damit wolle man Deutschland zu einem Parlament machen, damit politische Meinungsbildung nicht nur im politischen Berlin stattfindet. Und, so versichert Albers, man sei auch gespannt auf "kritische Rückmeldungen".

Offenheit versus Programmatik

Dass die 80 Initiatoren durchaus eigene Vorstellungen davon haben, wie sich die Politik in Deutschland ändern soll, zeigt der Aufruf, den Sarah Wagenknecht und ihre Mitstreiter am Dienstag verteilen. Anders als Medien und etablierte Politik, die seit einem Jahr über das Thema Flüchtlinge reden und damit die AfD-Agenda bedienen, stehen bei den Initiatoren von Aufstehen soziale und ökologische Probleme im Mittelpunkt. "Während Konzerne hohe Dividenden ausschütten, streiten die Ärmsten an den Tafeln um überlagerte Lebensmittel", so der Tenor. Diese "Zerstörung des sozialen Zusammenhalts, wachsende Unzufriedenheit und empfundene Ohnmacht" schaffen den Nährboden für Hass und Intoleranz.

Ob Aufstehen mit der Orientierung auf soziale Verteilung ein Agenda-Cutting in der Flüchtlingspolemik leisten kann, bleibt fraglich. Zumindest die Vertreter der Hauptstadtpresse versuchen sofort, Wagenknecht, Stegemann und Co. in die Fragestellungen des aktuellen politischen Mainstream einzunorden. Wie sich die Sammlungsbewegung zu den Parteien SPD, Grüne und Linke verhalte. Immer wieder die Flüchtlingsfrage. Was sie denn gegen die Nazis in Chemnitz machen würden, will schließlich Ulrich Jörges wissen. Dass die Initiatoren tatsächlich auch praktisch gegen den Rechtsruck der etablierten Politik stehen können, zeigt sich etwa, als Simone Lange erklärt, dass die AfD in Flensburg keinen Fuß auf den Boden bekommt.

Auch wenn die Organisatoren betonen, dass Aufstehen basisdemokratisch von unten wachsen soll: Die Partei-Arithmetik spielt schließlich auch auf dem Podium der Bundespressekonferenz eine wichtige Rolle. Die SPD hat in den vergangen Jahren acht Millionen Wähler verloren, nur eine Minderheit ist bei der Linken gelandet. "Natürlich", so Wagenknecht, müssen die linken Parteien etwas falsch gemacht haben, wenn sie die parlamentarische Mehrheit verloren haben. Aber zunächst müssen die Forderungen wieder "auf die Straße getragen" werden. "Wir möchten so viel Druck machen, dass die Parteien sich dem nicht entziehen können."

Der fulminante Start der Bewegung zeigt, dass die Aktivierung überraschend stark gelungen ist. Ob es gelingt, die vielen Interessierten nun auch organisatorisch einzubinden, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Die Presseresonanz auf den Start der Bewegung ist am Morgen nach der Pressekonferenz weiter durchgehend negativ. Dass die Hauptstadtjournalisten versuchen, das Projekt niederzuschreiben, muss einer außerparlamentarischen Bewegung jedoch nicht zwangsläufig schaden, mag sich mancher bei Aufstehen sagen.

Ob das Projekt in den "kommenden Aufstand" mündet, den ein unsichtbares Komitee vor zehn Jahren ankündigte, bleibt vorerst offen. "Wir hoffen, dass wir ein Klima erzeugen, in dem die Parteien gar nicht mehr anders können, als sich den Fragen zuzuwenden, die in den letzten Jahren vernachlässigt wurden", so das Minimalprogramm von Ludger Volmer.

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