Schweden: Von sozialen wie politischen Brennpunkten

Einkaufszone Angered. Bild: J. Mattern

Keine No-Go-Zonen, wie viele Rechte behaupten, wohl aber eine unzugängliche Welt mit eigenen Gesetzen

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In der Ersatz-Straßenbahnlinie "X" in Göteborg: Mehr als ein Drittel der Frauen trägt Schleier, etwa ein Viertel der Männer Baseballmütze und die wenigen scheinbaren "Bio-Schweden" sind grauhaarig. Aus dieser Tram würden viele Bürger Schwedens aussteigen und einsteigen, einsteigen in ein Lamento - leise, anonym in den sozialen Netzwerken oder wie letztens etwas lauter. "Wohin führt das?"

Das Erstarken der Rechtspartei "Schwedendemokraten", die mit rund 17 Prozent am Sonntag ein geringeres Ergebnis als befürchtet erhielt, wird unter anderem mit den Verhältnissen in den Vororten der großen Städte begründet, die mit Segregation, Arbeitslosigkeit, Schießereien, kriminellen Gangs und Islamismus in Verbindung gebracht werden. Seit 2011 wurden in den drei großen schwedischen Städten Stockholm, Göteborg und Malmö 520 Schießereien mit 131 Todesopfern registriert.

Angered, im Norden der Arbeiterstadt Göteborg gelegen, Endhaltestelle der besagten Straßenbahn, gilt als ein solcher Brennpunkt. Das Einkaufszentrum dort im kalten Siebziger-Jahre-Stil hat viele Kunden aus dem Nahen Osten sowie orientalische Geschäfte. Der Staat ist durch Ordnungshüter präsent. Diesmal fährt der Volvo-Kombi mit der Aufschrift "Polis" wegen einer wohl "länger Eingesessenen" vor: Eine ältere Frau mit schütterem Haar hält sich wankend an einem Schild fest. "Rein ins Auto!" herrscht sie eine junge Polizistin an.

"Vollkommen besoffen. Es wird hier schlimmer, immer schlimmer", meint eine hagere Beobachterin des Vorfalls, ebenfalls betagt. Nein, Verbesserungen, könne sie nicht erkennen. Es gebe zu viele Migranten und keinen Respekt mehr, abends gehe sie nun nicht mehr aus dem Haus. Seit 30 Jahren wohnt die pensionierte Altenpflegerin schon hier, die selbst aus Finnland eingewandert ist und nach einigem Zögern ihren Namen mit "Britt-Marie" angibt, die Mentholzigarette ausdrückt und zum Bus eilt.

Weit berüchtigter als Angered ist eigentlich der westliche Vorort Biskopsgarden mit einer höheren Anzahl an Gewalttaten. Angered mit seinen recht attraktiven scheinenden Wohnanlagen ist dennoch im öffentlichen Fokus - von den 300 Personen, die seit 2012 zum IS ausgereist sind, kamen 150 zurück, um die 130 nach Göteborg, und davon sollen sich viele in Angered konzentrieren. Hierzu fehlen offizielle Zahlen.

"Mehr Lehrer, dann erst mehr Polizei. Man muss die Schulen verbessern"

Ulf Merlander, Chef der lokalen Polizeistation, hat die Heimkehrer verhören lassen. "Wir haben von der Säpo (dem Inlandsgeheimdienst) eine Liste bekommen. Wir wissen, dass sie in Syrien waren, aber wir wissen nicht, was sie in Syrien gemacht haben", erklärt der 49-Jährige in einem kleinen Konferenzraum der Polizeistation.

Als Aussage habe die Polizei zu hören bekommen, dass die Rückkehrer für Hilfsorganisationen im Nahen Osten gearbeitet hätten. "Es sind ungefähr die gleichen Mechanismen, wie man kriminell und wie man extremistisch wird - man fühlt sich ausgeschlossen, man sucht eine Gruppe, mit der man sich identifiziert, wir müssen uns mit diesen Gruppen befassen."

Ulf Merlander. Bild: J. Mattern

Alle Parteien hatten die Polizei vor der Wahl gefragt, was sie haben wollen. "Wir sagen, das erste ist - mehr Lehrer, dann erst mehr Polizei. Man muss die Schulen verbessern." Ansonsten sei jedoch Angered sicherer geworden, der Drogenverkauf rückläufig, versichert der selbstbewusste Beamte, der den Erfolg mit dem Drei-Phasen-Konzept erklärt: Den Beginn macht eine sichtbare und repressive Polizeiarbeit, dann folgt Vertrauensbildung bei der Bevölkerung, die sich so mehr bei der Polizei meldet und hilft, in "Phase drei" gegen im Untergrund agierende Gruppen vorzugehen.

Die Bezeichnung "Ghetto", so nennt die dänische Regierungen Wohngegenden mit vielen Migranten, lehnt Merlander ab, dies teilte er auch einem offiziellen Besuch aus Chicago mit, der danach fragte. Auch gebe es in Schweden keine "No-Go-Zonen", nur Bereiche der Stadt, die bei Dunkelheit etwas unsicherer wären.

Auf den ersten Augenschein hin wirkt das offizielle Schweden um Integration bemüht. In der Polizei-Rezeption ist keine Uniform zu sehen, hinter wie vor der Glasscheibe wirken Menschen mit Migrationshintergrund, auf gleicher Ebene der Polizeistation befindet sich ein Restaurant.

Und in den klimatisierten Räumen der Stadteilverwaltungen und den generös eingerichteten Gemeindebibliotheken steht stets pflichtig ein Tischwimpel in Regenbogenfarben. "Alle sollen mit" - so der Slogan der Traditionspartei Sozialdemokraten in den Nuller Jahren, der den wohlmeinenden wie ein wenig autoritären Wohlfahrtsstaat gut in einem Satz zusammenfasst. Doch nun wollen immer weniger mit - ein Teil der Wähler, ein Teil der Einwanderer scheint sich zu verweigern.

Dies muss auch die Stadt Göteborg bei dem Aussteigerprogramm für Extremisten feststellen: "Wir haben noch keinen Fall, wo ein Mitglied einer islamistischen Gruppe sich offiziell losgesagt hat", so Zan Jankovski, der seit 2015 als Koordinator für "gewaltbereiten Extremismus" für die Stadt arbeitet und netterweise seinen Urlaub für das Telefoninterview unterbricht.

Der Beamte zählt die Maßnahmen auf: Aufklärung an den Schulen, dialogorientierte Projekte für Jugendliche, das Programm "Sicher in Göteborg", auch wurde speziell in Angered ein "Interreligiöser Rat" gegründet. Jeder, der extremistische Umtriebe bemerkt, kann sich an Jankovski wenden.

Nach seiner Einschätzung zeichnet sich keine gute Entwicklung ab: "Es gibt einen großen Kreis von Personen in Göteborg, die sich radikalisiert haben." Menschen, die aus dem Irak und Syrien hergekommen sind, seien unter ihnen, sowie diejenigen, die in Göteborg aufgewachsen seien, am Vereinsleben teilgenommen, das "schwedische Modell gelebt" hätten. Es gebe aber auch Konvertiten, überwiegend Frauen.

Seit den neunziger Jahren hat sich in Göteborg eine Dschihadistenszene etabliert. Eine Herausforderung für die Behörden stellten auch Aufrufe der dortigen Salafisten an die schwedischen Muslime dar, sich den kommenden Wahlen zu verweigern. Die Stadt hielt dagegen - mit Demokratie-Bussen, Demokratie-Botschaftern, die auf der Straße Menschen zum Wählen animieren, Demokratie-Sommercamps sowie Vorträgen für mehr weibliche Selbständigkeit. Diese Camps wurden allerdings schon zuvor als Reaktion auf die geringe Wahlbeteiligung in den Vierteln eigerichtet.

So bürgernah die Offiziellen sich gern selbst sehen, bei einem Kneipenbesuch in dem nicht ganz so migrantischen Viertel Lundby hörte der Autor dieser Zeilen, dass gerade die Bürgernähe fehle. Es gebe Entscheidungen über die Köpfe der Schweden hinweg in Sachen Verkehrsprojekte oder Einwanderungspolitik.

"Probleme werden verdrängt"

Auch Tito Vargas zählt zu den Kritikern des schwedischen Modells in seiner Stadt. "Probleme wurden verdrängt, nun sind die Probleme nicht zu übersehen - und es gibt immer noch keine Lösung." Der temperamentvolle Chilene redet sich über Schweden gerne in Rage. Vor 30 Jahren suchte er als Pinochet-Gegner hier Asyl und wirkt seit Jahren in Biskopsgarden, wo er mit seinem Fußballclub "Cruz Azul" versucht, Jugendliche verschiedener Herkunft vom Abdriften in die Kriminalität abzubringen.

Die Heranwachsenden bräuchten andere Vorbilder als die Eltern und ältere Jugendliche, die durch Drogenhandel sich auf einmal angesagte Sneakers leisten könnten. Durch Sport könnten sie andere Lebenswege kennen lernen. In Biskopsgarden liegt die Arbeitslosigkeit bei 17 Prozent, nach Auskunft der Stadtverwaltung jedoch praktisch bei vierzig Prozent, wie eine Vertreterin der Stadtverwaltung zugesteht.

Einkaufszone Biskopsgarden. Bild: J. Mattern

Vor einer Holzbaracke, das Vereinshaus mit Blick auf einen Bolzplatz und klotzige Verwaltungsgebäude im "besseren", südlichen Teil von Biskopsgarden, lädt Vargas zu einer Tasse Kaffee mit schwedischen Zimtschnecken. Eine Gruppe jugendlicher Fußballer aus Chile kommt singend vorbei, sie haben gerade eine schwedische Auswahl im Gotha Cup, einem internationalen Fußballwettbewerb für Jugendliche, geschlagen.

Eine Umkleidekabine kann er ihnen und seinen Jugendlichen aus Biskopsgarden jedoch nicht anbieten, das wurde von den Behörden untersagt. Auch den Rasen dürften seine Eleven nicht selbst mähen. Vorschriften. Bei einem vorigen, besseren Gebäude hatte die Stadt die Miete um das Dreifache erhöht und sie mussten darum raus.

Andererseits erlebte er auch Hilflosigkeit von Seiten der Obrigkeit. Der heutige Straßenbahnfahrer habe schon als Deutschlehrer auf einer Schule im nördlichen, gefährlicheren Teil des Viertels gearbeitet, ohne überhaupt ein Wort Deutsch zu können - er wurde von der Direktion berufen, da er mit den Schülern gut zu Recht käme.

Darum zog er aus dieser Gegend weg, damit seine eigenen Kinder nicht auf diese Schule mussten - auch so funktioniert Segregation.

Bei einem Spaziergang in Biskopsgarden Nord, entlang der langgestreckten Wohnblocks aus dunklem Ziegelstein, schütteln dem 54-Jährigen viele Jugendliche die Hand, man kennt sich vom Sport. Doch es gibt auch hier Grenzlinien. Beim Treffen mit zwei Mitgliedern des somalischen Fußballclubs "Geederup", die auf einer Bank eine Falafel essen, gesellt sich ein bärtiger Mann im arabischen Jabador-Gewand hinzu. Er ist vom gegenüberliegenden "Islamischen Kulturzentrum" gekommen und verschränkt demonstrativ finster blickend die Arme - die Somalier unterbrechen die Konversation und gehen weg.

Sehr viele solcher ethnischer Vereine gebe es. "Das bringt Null für die Integration, Null!" , meint Vargas, der auch den Islam als Hemmnis sieht. Dann zeigt er zwei Stellen, wo er eine Schießerei erlebte, als er mit seinen Fußballzöglingen zum Training ging, einmal schoss der Beifahrer eines Mopeds wild um sich. In der Parallelstraße wurde vor zwei Jahren ein achtjähriger Junge in seinem Zimmer durch eine Handgranate getötet - ein versehentliches Opfer im Kampf um Drogenreviere.

Später dann, bei Abenddämmerung, ohne die Begleitung des Experten, versucht der Autor dieser Zeilen Migranten anzusprechen. Wie es sich denn in Biskopsgarden so lebe. Es waren hier schon einige Reporter unterwegs - es gibt nur Absagen, jedoch ohne Aggressionen. "Wir wissen nichts, wir sind nur zu Besuch da", meinen etwa drei junge Somalier, die sich später in der Straßenbahn über den Sozialen-Brennpunkt-Touristen kaputtlachen.

Keine No-Go-Zone, wie viele Rechte behaupten. Wohl aber eine unzugängliche Welt mit eigenen Gesetzen, an der sich Schwedens Politiker und Behörden noch lange abarbeiten werden, egal welche Regierungskoalition nun zusammen kommt.