Amri und der Verfassungsschutz: Widersprüche über Widersprüche

Im Untersuchungsausschuss des Bundestages versucht das Bundesamt für Verfassungsschutz, seine Rolle klein zu reden

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Welche Rolle spielte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) im Zusammenhang mit Anis Amri, dem mutmaßlichen Attentäter vom Breitscheidplatz in Berlin? Um diese Frage wird seit Wochen erbittert gekämpft. Die Widersprüche werden mehr - und damit wächst auch der Verdacht, dass das Amt in den Skandal verwickelt ist und die Gründe, das zu leugnen, schwer wiegen müssen. Am Maß des Widerstandes lässt sich das Maß der möglichen Wahrheit erahnen.

Zwischen den Fronten steht zur Zeit eine BfV-Auswerterin mit dem Arbeitsnamen "Lia Freimuth". Sie hatte Mitte September im Amri-Untersuchungsausschuss des Bundestages ansatzweise offengelegt, dass der Tunesier in der Behörde ein Vorgang war: Es wurde eine Akte über Amri geführt, und er wurde, so die Zeugin wörtlich, "mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwacht".

Damit widersprach eine BfV-Mitarbeiterin der offiziellen Sprachregelung der Amtsleitung - einerseits, zugleich bestätigte sie Medienberichte der letzten Wochen, die gleich mehrere Verschleierungsaktionen des Amtes enthüllt hatten. Anfang 2017 hatte die Bundesregierung im Namen des BfV beispielsweise auf eine Kleine Anfrage der Grünen-Fraktion geantwortet: "Amri wurde nicht vom BfV mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwacht." Der eingereiste Tunesier, der als "Gefährder" eingestuft wurde, sei ein reiner Polizeifall gewesen.

Wenige Wochen später soll BfV-Präsident Hans-Georg Maaßen gegenüber dem Innensenator von Berlin darauf gedrängt haben, die Existenz eines V-Mannes im Umfeld von Amri geheim zu halten. Auf einem Sprechzettel für den Amtschef hieß es: "Ein Öffentlichwerden des Quelleneinsatzes gilt es schon aus Quellenschutzgründen zu vermeiden." Wieder nur wenige Wochen danach erhielt der vom Senat von Berlin eingesetzte Sonderermittler vom BfV die Auskunft, das Amt habe "vor dem Anschlag keine eigenen Informationen zu Amri besessen und auch keine Informationsbeschaffung betrieben". Bruno Jost, jener Sonderermittler, soll das, wie aus dem Ausschuss zu vernehmen war, jetzt in der nicht-öffentlichen Sitzung, die der öffentlichen vorausging, erneut bestätigt haben.

Im Frühjahr 2018, nach Beginn des Untersuchungsausschusses im Bundestag, musste dann erstmals eingeräumt werden, dass es eine Bundes-Quelle in der mittlerweile geschlossenen Fussilet-Moschee in Berlin gegeben habe. Sie habe aber nichts mit Amri zu tun gehabt, so das BfV. Gleichwohl ging Amri in der Moschee ein und aus und übernachtete sogar immer wieder dort. Auch noch kurz vor dem Anschlag am 19. Dezember 2016, dem zwölf Menschen zum Opfer fielen, soll er in der Fussilet gewesen sein.

Mitglieder des Amri-Ausschusses werfen dem Geheimdienst semantische "Wortklauberei" vor, die der "Verschleierung der Verantwortung des BfV im Zusammenhang mit dem schwersten dschihadistischen Anschlag der Bundesrepublik" diene.

Was ist nachrichtendienstliche Überwachung?

Das schien in der jüngsten Sitzung des Ausschusses wieder der Fall zu sein. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hatte einen Mann aus der Haus-Hierarchie zum Parlament geschickt, um nun der Aussage der Quasi-Kronzeugin "Lia Freimuth" zu widersprechen und ihr Zeugnis wieder aus der Welt zu schaffen. Der Nachrichtendienstler griff dabei zu Mitteln, die man als rhetorische Desinformation bezeichnen könnte. Allerdings mit mäßigem Erfolg, vielmehr verschärfte sich der Verdacht, dass die Bundesebene des Sicherheitsapparates in den Amri-Komplex verwickelt ist.

"Gilbert Siebertz", 51 Jahre alt, ist Leitender Regierungsdirektor und im BfV Referatsgruppenleiter der Abteilung Islamistischer Terrorismus. Er steht fünf Referaten vor. Im Anschlagsjahr 2016 war er der direkte Vorgesetzte der Auswerterin "Lia Freimuth", die die Akte Amri führte.

Gleich auf die erste Frage antwortete er, was das BfV im Januar 2017 zum Fall Amri erklärt habe, stimme weiterhin. Doch noch im selben Satz relativierte er die Aussage durch die Anfügung: "aus meiner Perspektive". Er gestand ein, das BfV habe zwar "damit zu tun gehabt", aber Amri sei ein Polizei-Sachverhalt gewesen, die Federführung habe bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen und Berlin gelegen. Für die Notwendigkeit eigener Tätigkeiten des BfV habe er keine Kenntnisse. Ein Satz, der BfV-Tätigkeiten eben nicht ausschließt. Mit dieser Methode lavierte er sich durch die Befragung.

Der Führungsbeamte erklärte, das BfV habe keine eigenen Erkenntnisse zu Amri gehabt. Der Vorgang Amri habe im Amt keine besonders hohe Priorität besessen. Dennoch hat der Geheimdienst bereits im Januar 2016 eine Personenakte zu Amri angelegt - warum? Eine Personenakte werde angelegt, so der Zeuge allgemein, wenn mindestens fünf Informationen eingingen oder die Erstinformation sehr wichtig sei.

Untersuchungsausschuss (UA): "Wurde Amri nachrichtendienstlich überwacht?"

Gilbert Siebertz (BfV): "Nein, wir haben ihn nicht nachrichtendienstlich überwacht."

UA: "Wurden nachrichtendienstliche Mittel eingesetzt?"

BfV-Zeuge: "Das kommt auf die Definition an. Meiner Meinung nach: nein. Der Einsatz von V-Leuten wurde in Betracht gezogen worden. Niemand hat Amri aber auf vorgelegten Fotos erkannt, deshalb sind keine weiteren Mittel möglich gewesen."

UA: "Nach dem Anschlag will eine BfV-Quelle Amri aber doch erkannt haben."

BfV-Zeuge: "Das ist eine Formulierung des Parlamentarischen Kontrollgremiums. Ich würde es so nicht formulieren. - Die Quelle war in einem anderen Bereich."

UA: "Ist die Vorlage von Fotos bei V-Leuten eine nachrichtendienstliche Maßnahme?"

BfV-Zeuge: "Ja."

UA: "Die Zeugin Freimuth hat in der letzten Sitzung erklärt, ja, Amri sei mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwacht worden."

BfV-Zeuge: "Nein, er wurde nicht mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwacht. Insbesondere nicht: 'überwacht'. Nach allem, was ich mir denken kann, hat Frau Freimuth 'wahrscheinlich' gesagt."

UA: "Nein. Der Wortlaut liegt vor."

Telepolis hat diesen Wortlaut dokumentiert.

Für den Beobachter waren es Kunstgriffe, mit denen der BfV-Verantwortliche Siebertz versuchte, die Widersprüche zweier Zeugen des Amtes zu überbrücken und in Einklang zu bringen. Subtil unterschied er zum Beispiel zwischen "Überwachung" und "Beobachtung". Solche Feinheiten erlauben ihm, die Frage nach einer Überwachung zu verneinen, obwohl eine Person tatsächlich beobachtet wird.

Intervention des Bundesinnenministeriums: "Stopp! Das ist eingestuft."

Der Ausschuss legte ihm dann eine Akte vor, in der explizit von "nachrichtendienstlicher Beobachtung" Amris durch das BfV die Rede ist. Es handelt sich um ein sogenanntes Personagramm des Landeskriminalamtes (LKA) von Nordrhein-Westfalen, in dem tabellarisch stichpunktartig festgehalten ist, welche Erkenntnisse es zu einer Zielperson gibt und welche Maßnahmen laufen.

Wörtlich findet sich die Zeile: "PB 07/ Nachrichtendienstliche Beobachtung durch BfV". Das Schriftstück trägt die Daten 13. Oktober 2016 und 14. Dezember 2016. Es könnte also seit dem 13. Oktober jenen Jahres Gültigkeit gehabt haben. Der 14. Dezember wiederum deckt sich mit Informationen, die im Untersuchungsausschuss (UA) des Abgeordnetenhauses von Berlin zur Sprache kamen. An diesem Tag soll die Polizei in Krefeld die Polizei in Berlin kontaktiert und gebeten haben, Amri festzunehmen.

Im UA des Bundestages blieb der BfV-Mann Gilbert Siebertz auch trotz Aktenvorhalt dabei: "Ich kann nicht sagen, warum das LKA diesen Eintrag gemacht hat. Wir hatten keine nachrichtendienstliche Maßnahme zu Anis Amri. Wir haben auch keine nachrichtendienstlichen Maßnahmen unterstützt. Dieser Eintrag ist falsch."

UA: "Wer hat festgelegt, dass Amri ein Polizei-Fall war?"

BfV-Zeuge: "Ist so gewesen, weil wir ja keine operativen Mittel eingesetzt haben."

UA: "Vor dem 19. Dezember 2016 [Tag des Anschlages] gab als keinerlei Observation Amris?"

BfV-Zeuge: "Vom BfV gab es keine Observation zu Amri oder seinem Umfeld."

UA: "Hat das BfV andere Behörden unterstützt, die Amri observierten?"

BfV-Zeuge: "Weiß ich nicht."

UA: "Gab es Aufträge an Quellen, den Aufenthaltsort Amris zu benennen?"

BfV-Zeuge: "Ja, war aber negativ."

UA: "Gab es Aufträge an Quellen, näher an Amri heranzurücken?"

BfV-Zeuge: "Ja."

UA: "Wie nah?"

Intervention des Bundesinnenministeriums: "Stopp! Das ist eingestuft. Sie bekommen die Antwort in der nicht-öffentlichen Sitzung."

UA: "Gibt es neben der Personenakte auch eine Sachakte zu Anis Amri?"

BfV-Zeuge: "Logischerweise."

UA: "Was steht da drin?"

BfV-Zeuge: "Weiß ich nicht. Es müsste in der Sachakte zur DIK-Moschee in Hildesheim sein."

Bundesinnenministerium: "Stopp, stopp, stopp!"

UA: "Warum? Es geht um Strukturen gewaltbereiter Szenen, in denen sich Amri bewegte."

Bundesinnenministerium: "Das berührt Arbeitsweise und Methodik des BfV."

UA: "Wenn Sie sagen, das BfV hatte in der Fussilet-Moschee eine Quelle, aber nicht wegen Amri. Hatten Sie Quellen, die - ohne Auftrag - dennoch Kontakt zu Amri hatten?"

Intervention Bundesinnenministerium: "Die Frage darf nicht beantwortet werden. Es handelt sich um nachrichtendienstliche Mittel."

UA: "Gab es durch andere Verfassungsschutzämter einen Quellen-Einsatz in der Fussilet-Moschee?"

BfV-Zeuge: "Ich weiß es nicht in jedem Fall. Das BfV müsste es aber wissen."

Intervention Bundesamt für Verfassungsschutz: "Nach der Aussagegenehmigung darf eine Frage nicht beantwortet werden, wenn dem das Staatswohl entgegensteht."

UA: "Ich habe nur abstrakt gefragt."

Bundesinnenministerium: "Fussilet-Moschee ist ein Detail." UA: "Vielleicht gefährdet es das Staatswohl, wenn Quellen doppelt geführt werden."

BfV-Zeuge: "Eine doppelte Quellen-Führung kann ich ausschließen."

UA: "Der Ladeort des LKW soll in der Nähe gelegen haben, wo Amri ums Leben kam. Sind Sie dem nachgegangen?"

BfV-Zeuge: "Nein."

UA: "Haben Sie ausländische Partner-Nachrichtendienste dazu befragt?"

Bundesinnenministerium: "Einspruch!"

Antworten und Antwort-Verweigerungen, die neue Fragen aufwerfen

Wenn so viele Wege derart massiv verstellt werden, müssen im Bundesamt für Verfassungsschutz ganz offensichtlich mehrere Nervenstränge des Komplexes Amri zusammenzulaufen.

Warum wird gerade diese Behörde im Januar 2016 vom LKA in Düsseldorf gebeten, eine Informationszusammenstellung über Amri (ein sogenanntes Behördenzeugnis) an die verschiedenen Sicherheitsbehörden herauszugeben? Selbst für BfV-Vertreter Siebertz eine "ungewöhnliche Maßnahme". Normalerweise würde ja sein Amt Quellenschutz betreiben.

Warum beauftragt im November 2016 das Gemeinsame Terrorismus-Abwehr-Zentrum (GTAZ) ausgerechnet das BfV damit, Informationen eines marokkanischen Nachrichtendienstes zu prüfen, nach denen Amri in Deutschland "ein Projekt ausführen" wolle - und nicht den BND, den eigentlich zuständigen Auslandsnachrichtendienst der BRD? Auch dazu sagte Siebertz, die "Logik dieses Auftrages ans BfV" erschließe sich ihm nicht. Doch was ist aus dem Auftrag geworden, und warum wurde das BfV erst nach dem Anschlag initiativ?

Was hatte das BfV mit dem Personenkreis um den IS-affinen Prediger Abu Walaa in Hildesheim zu tun, wenn Fragen dazu mit Hinweis auf die Arbeitsweise des Dienstes kategorisch unterbunden werden? Bisher glaubte man, der Fall, der seit einem Jahr vor dem Oberlandesgericht Celle verhandelt wird, liege allein in den Händen des LKA von Nordrhein-Westfalen und der Bundesanwaltschaft.

Ein schräges Licht fiel durch die Ausschuss-Vernehmung des Verfassungsschützers nebenbei auch auf die Chronologie der Bundesregierung zum Behördenhandeln im Falle Amri. Allem Anschein nach ist sie nicht vollständig. Der Zeuge machte Andeutungen, dass es geheime Sachverhalte geben muss, die ausgespart wurden. Das konnte man bisher zwar mutmaßen. Dass es aber nicht offiziell deklariert wurde, kommt einer Täuschung der Öffentlichkeit gleich.

Auffällig am Aussageverhalten des BfV-Zeugen war schließlich, dass seine Antworten eine bestimmte Tendenz hatten. So sprach er wiederholt davon, Amri habe sich in Berlin in einem "kleinkriminellen Milieu" bewegt. Man habe also nicht ahnen können, dass so jemand einen "islamistischen" Terroranschlag begehe. "Kleinkriminelles Milieu?" Der Staatsschutz von Berlin hatte allerdings etwas anderes festgestellt: Amri betrieb zusammen mit Komplizen einen "gewerbs- und bandenmäßigen Rauschgifthandel" und konsumierte selber harte Drogen. Außerdem war er an einer gemeinschaftlichen schweren Körperverletzung (Messerangriff) beteiligt, die zwingend einen Haftbefehl hätte nach sich ziehen müssen. Auch darüber waren Staatsschutz wie Generalstaatsanwaltschaft im Bilde.

Bei der angeblichen Bewertung der Ermittler, Amri betreibe "möglicherweise Kleinsthandel mit Betäubungsmittel", obendrein ohne Komplizen, handelte es sich um eine Aktenfälschung der Polizei, die der Sonderermittler Bruno Jost 2017 aufgedeckt hatte. Der BfV-Vertreter Siebertz übernahm im Prinzip die nachgeschobene falsche Bewertung der Polizei von Berlin, schwächte damit die Gefährlichkeit Amris ebenfalls ab und konnte so das angebliche Nicht-Tätigwerden seiner Behörde rechtfertigen.

Außer Siebertz wurde anschließend ein weiterer BfV-Zeuge unter Ausschluss der Öffentlichkeit befragt: ein Verantwortlicher der Abteilung Beschaffung, abgekürzt als Zeuge "C.M." Die Beschaffer führen die Quellen und V-Leute. Ein Ausschussmitglied meinte, sie wüssten gar nicht, ob "C.M." tatsächlich der richtige Zeuge sei, denn der Ausschuss habe noch keine Akten dazu vorliegen. Über die Vernehmung ist nichts bekannt.

Und was ist mit der sogenannten Kronzeugin aus dem BfV "Lia Freimuth"? Auch darüber herrscht Unklarheit. Überraschend sollte sie am Donnerstag in nicht-öffentlicher Sitzung von den Abgeordneten weiter befragt werden. Auf der ursprünglichen Tagesordnung war sie nicht aufgeführt. Dann wurde sie doch nicht vernommen. Die Koalition habe sich dagegen ausgesprochen, erklärte ein UA-Mitglied gegenüber Journalisten und Besuchern. Die Beamtin sei krank, hieß es, was allerdings irritiert. Denn, wenn eine Krankheit vorliegt, kann es keine zwei Meinungen geben.

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