Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen

Bild: Dmitry Dzhus/CC BY-2.0

Das vorherrschende Bild vom alleinigen "Bösewicht" Russland ist zu einfach

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… weil Frieden die Basis für alles Leben ist und weil es ohne oder gar gegen Russland keine verlässlichen Sicherheitsstrukturen geben wird und - Freundschaft heißt Vertrauen. Das Zusammenleben wird dadurch nicht nur leichter, sondern auch angenehmer. Eigentlich ganz einfach und logisch. Warum funktioniert es nicht?

Im Nachgang der Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr sah es doch so aus, als seien wir auf dem richtigen Weg. Der Fall der Mauer, die Auflösung der Sowjetunion, das Ende des Kalten Krieges - die Welt schien, für einen Wimpernschlag der Geschichte, paradiesischen Zeiten entgegenzugehen.

Ich kann mich gut an meine Empörung über die folgenden Sätze erinnern: "Für Freudentaumel besteht kein Anlass. Wir werden den Zeiten der Ost-West-Konfrontation noch nachtrauern. Regionalkonflikte werden die Zukunft beherrschen, und die Welt wird nicht friedlicher werden, ganz im Gegenteil." So hatte sich ein bekannter Politiker zu fortgeschrittener Stunde vertraulich im kleinen Kreis geäußert.

Ich konnte und wollte mir dieses Szenario nicht vorstellen und vertraute darauf, dass die politischen Akteure auf allen Seiten den Wert dieser Chance erkannten und in diesem Sinne handelten. Ich vertraute auch darauf, dass sich die Menschen diese Errungenschaften nicht mehr nehmen und sich nie wieder gegeneinander aufhetzen lassen würden. Aus heutiger Sicht betrachtet - wie naiv.

An allen Ecken und Enden brennt es: Syrien, Irak, Afghanistan, der Nahost-Konflikt, um nur einige Brandherde zu nennen. Terrorismus bestimmt auf zweifache Weise die Ausrichtung von Politik: im tatsächlichen Abwehrkampf und als willkommener Vorwand für politische Entscheidungen, die sich unter "normalen" Bedingungen kaum durchsetzen ließen.

Die Weltwirtschaftsordnung verdient die Bezeichnung "Ordnung" nicht mehr. Zockerei und eine Mischung aus Perversion und Zynismus heben alles aus den Angeln. Börsen, die wie Kartenhäuser sind, und beim leichtesten Windzug zusammenstürzen, haben reale Wertschöpfung und Fakten abgelöst. Psychologie, zweifelhafte Rankings und Stimmungsmache entscheiden über die Existenz oder den Bankrott von Menschen, Firmen und zuweilen sogar von Staaten.

Wäre es nicht intelligent, ein Land wie Russland mit seinen Erfahrungen und seiner Geschichte an den Überlegungen zu beteiligen, wie man diesen Fehlentwicklungen begegnen kann? Was wäre denn, wenn man gemeinsam nach Antworten auf Fragen suchen würde, die Deutsche, Russen und viele andere gleichermaßen beschäftigen? Die humane und zivilisierte Bewältigung des demografischen Wandels gehört auch dazu. Ein Problem, das durchaus das Potenzial hat, den Frieden zu gefährden, nicht nur den sozialen.

Es hat einen gewissen Sinn, sich auf Fehlersuche zu begeben. Wer hat zu welchem Zeitpunkt die falschen Weichen gestellt? Der Sinn besteht darin, die gleichen Fehler nicht noch einmal zu machen. Aber ich denke, wir haben keine Zeit, uns allein mit der Vergangenheit zu beschäftigen und nach Schuldigen zu fahnden. Das vorherrschende Bild vom alleinigen "Bösewicht" Russland ist jedenfalls zu einfach. Doch was nützt es, bloß akribisch aufzulisten, wer wann worauf reagiert und damit seinen Teil zur Eskalation beigetragen hat? Jetzt geht es vor allem darum, aus der Sackgasse, in der die Welt - warum auch immer - gelandet ist, möglichst schnell und heil herauszufinden. Und das geht nur zusammen mit Russland, dem größten Land der Erde, das sich über elf Zeitzonen erstreckt.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch "Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen", das gestern im Westend Verlag erschienen ist. 94 Prozent der Deutschen halten gute Beziehungen zu Russland für wichtig. So das Ergebnis einer umfangreichen Studie des forsa-Institutes für Politik und Sozialforschung aus diesem Jahr. Die aktuelle Politik der deutschen Regierung missachtet diese überwältigende Mehrheit jedoch sträflich. Mehr noch: Seit dem Konflikt in der Ukraine eskaliert die Konfrontation zwischen Ost und West zunehmend. Dabei waren wir schon so viel weiter: Die Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr machte einen Dialog mit Russland möglich, der den Frieden und gute partnerschaftliche Beziehungen mit Russland sicherte. Ganz im Sinne Ihres verstorbenen Ehemanns setzt sich Adelheid Bahr für eine neue Entspannungspolitik ein und mit ihr eine Vielzahl von Persönlichkeiten aus Politik, Gesellschaft und Kunst.

Mit Beiträgen von Adelheid Bahr, Egon Bahr, Wolfgang Bittner, Peter Brandt, Mathias Bröckers, Daniela Dahn, Friedrich Dieckmann, Frank Elbe, Justus Frantz, Sigmar Gabriel, Peter Gauweiler, Richard Kiessler, Gabriele Krone-Schmalz, Wolfgang Kubicki, Harald Kujat, Oskar Lafontaine, Albrecht Müller, Matthias Platzeck, Detlef Prinz, Herwig Roggemann, Florian Rötzer, Evgeniya Sayko, André Schmitz-Schwarzkopf, Hans-Joachim Spanger, Antje Vollmer, Konstantin Wecker und Willy Wimmer.

Dreh- und Angelpunkt von Politik sind Interessen. Im Laufe meiner beruflichen Tätigkeit habe ich eine gewisse Skepsis entwickelt, wenn als Triebfeder für weitreichende politische Entscheidungen die ganze Bandbreite humanitärer Beweggründe aufgezählt wird - Menschenrechte, Demokratie und Freiheit -, ohne den Begriff "geopolitische Interessen" auch nur ein einziges Mal zu erwähnen. Dadurch entsteht eine Schieflage mit katastrophalen Folgen. Die Welt wird unterteilt in Gut und Böse: Unsere Interessen sind legitim, die der anderen nicht. Hoch komplizierte, chaotische Situationen wie beispielsweise in Syrien werden auf diese Weise nicht begriffen, der Konflikt kann also auch nicht nachhaltig gelöst werden.

Manchmal hilft ein Perspektivwechsel, um zu verstehen - im Sinne von begreifen -, was die andere Seite antreibt. Im Erfahrungshintergrund russischer Menschen hat Stabilität eine besondere Bedeutung. Menschen im Westen rümpfen darüber oftmals die Nase, denn Stabilität ist für sie etwas Selbstverständliches. Die instabilen, chaotischen, geradezu lebensbedrohlichen Zustände unter Jelzin können sie sich kaum vorstellen.

Wenn Russen in ihrer Mehrheit Stabilität und auskömmliches Leben zunächst einmal für wichtiger halten als zügige Demokratisierung, dann sollten Menschen in komfortabler ausgestatteten Gesellschaften das meiner Meinung nach respektieren. Russische Erfahrungen mit dem Fehlen von Stabilität und Staatlichkeit bilden zum Beispiel den Hintergrund zu geopolitischen Einschätzungen, die sich vom Westen unterscheiden. Mit der Ablösung von Bashar al-Assad die Stabilität und Staatlichkeit Syriens zu riskieren, entspricht jedenfalls nicht russischer Politik. Nach den Erfahrungen in Libyen verdiente dieser Gedanke jenseits von unbestreitbar vorhandenen geostrategischen Interessen Russlands mehr Beachtung.

Für mich gehört zur Friedensarbeit auch, sich selbst nicht als Nabel der Welt zu begreifen und zum Maßstab aller Dinge zu machen. Theoretisch werden das viele unterschreiben, denke ich. Die praktische Umsetzung ist da schon schwieriger. Konkret. Ich möchte auf keinen Fall darauf verzichten, in einer demokratisch verfassten Gesellschaft zu leben, und ich versuche meinen Teil dazu beizutragen, diese Gesellschaft zu erhalten. Aber es hilft nichts, mit Blick auf Russland ständig mit dem Begriff Demokratie herumzuwedeln und so zu tun, als könne der im luftleeren Raum irgendeine Kraft entfalten. Dazu braucht man Strukturen, die man aufbauen und gestalten muss, vielleicht auch testen, bevor man sie nutzen kann.

Mittel und Wege, um ein Ziel zu erreichen - eine lebenswerte Gesellschaft in Frieden -, müssen den örtlichen Gegebenheiten angepasst sein, und die sind nun einmal in Deutschland andere als in Russland. Das hat sehr wenig mit Ideologie zu tun, aber eine Menge mit praktischer Politik, auch und gerade mit Friedenspolitik. Es ist die Frage, welche Variante Menschenrechten und humanitären Zielen dienlicher ist.

Die "Kriegsgeneration" stirbt langsam aus, und ich habe den Eindruck, das Bewusstsein der Zerbrechlichkeit von Frieden auch. Wie sonst lässt sich die unbedarfte Eskalation in Politik und Medien erklären? Deeskalieren, vermitteln, sich in die Lage anderer versetzen - das hat nichts mit Schwäche zu tun, sondern mit politischer Weitsicht, mit menschlicher Größe und mit den christlichen Werten, die so viele im Munde führen.

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