Religiöse Vorschrift oder historisches Produkt der Männerherrschaft?

Paula Modersohn-Becker: Kopf einer alten Frau mit schwarzem Kopftuch, 1903

Abdel-Hakim Ourghi zum Kopftuch im Islam

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In seinem Buch Ihr müsst kein Kopftuch tragen plädiert der Theologe und Religionspädagoge Abdel-Hakim Ourghi für eine kritische Revision des islamischen Kopftuchgebots.

Herr Ourghi, in wie vielen islamisch regierten Staaten ist das Nicht-Tragen eines Kopftuchs gesetzlich erlaubt und wird von der Bevölkerung auch toleriert?

Abdel-Hakim Ourghi: Das ist völlig richtig, denn das Familiengesetz in vielen muslimischen Ländern, wie etwa in Nordafrika, erlaubt die Nicht-Verschleierung. Die Realität sieht jedoch anders aus. Es geht letztendlich bei der Verschleierung nicht nur um die Beherrschung des Geistes und Körpers der Frauen, sondern auch um die Steuerung ihrer Sexualität.

Viele Mädchen und Frauen, die kein Kopftuch tragen wollen, sind dem kollektiven Zwang ihrer Gemeinde und Familie ausgesetzt sind. Wenn sie schließlich doch nachgeben, dann nicht freiwillig. Die nicht kopftuchtragende Frau wird unterstellt, dass sie ihren Körper zu Schau und damit anderen zur Verfügung stellt.

In der patriarchalen Gesellschaftsordnung besteht der Konsens, eine solche Frau sei keine "wahre", keine "richtige" Muslimin. Sie sei eine Muslimin, die keinen Respekt vor der eigenen Religion und vor den anderen Muslimen habe. Sie sei eine Außenseiterin, da sie sich nicht an das Verschleierungsgebot halte. Ihre Zugehörigkeit zur muslimischen Gemeinde wird dadurch in Frage gestellt.

"Männer haben zu befehlen und Frauen zu gehorchen"

Wie funktioniert diese männliche Herrschaft?

Abdel-Hakim Ourghi: Die männlichen Herrschenden unterteilen sich ihrerseits ebenfalls in zwei Gruppen: Sie sind Führer und Geführte, Regierende und Regierte beziehungsweise Lenker und Gelenkte. Die Vertreter der ersten Gruppe sind in der Minderheit und die der zweiten in der Mehrheit. Sie ist gnadenlos, gefühlslos, machtbesessen und nicht bereit zu Kompromissen. Wer zur Gemeinde der Muslime gehören will, muss das "Ich" zugunsten des "Wir" aufgeben.

Sowohl die Frauen als auch die Männer müssen die vorgegebenen Machtstrukturen verinnerlichen: Männer haben zu befehlen und Frauen zu gehorchen. Eine Ablehnung der Verschleierung bedeutet dieser Sichtweise zufolge, dass die Herrschenden gleichzeitig ihre Deutungshoheit über die kulturelle Identität auf der Basis des Islam verlieren.

Welche Folgen hat dies für den Alltag in moslemischen Kulturen?

Abdel-Hakim Ourghi: Nichts im Alltag der Frauen darf dieser Anschauung zufolge dem Zufall überlassen bleiben. Es geht um die Etablierung und die Verwirklichung eines geschlechtlich hierarchisierten Weltbildes, in dem die Mädchen und Frauen willkürliche Vorschriften und Verbote mit größter Selbstverständlichkeit annehmen. Durch die Verschleierung will diese Herrschaftsordnung die Körper der Frauen nicht unsichtbar machen, sondern sie beherrschen.

Sie schreiben, dass Frauen, die Kopftuch tragen, die männlichen Herrschaftsstrukturen des Islam internalisiert haben. Ist das nicht ein bisschen schwierig, empirisch zu belegen?

Abdel-Hakim Ourghi: Die Durchführung empirischer Studien, in muslimischen Gemeinden ist kein einfaches Unternehmen. Kopftuch, Gewalt in den Familien und sexueller Missbrauch der Kinder sind Tabuthemen. Viele Muslime können es jedoch inzwischen nicht mehr ertragen, wenn der Islam und die Muslime kritisiert werden.

Und die Menschen, die es wagen darüber im öffentlichen Raum zu sprechen, werden in den sozialen Medien verunglimpft und für ungläubig erklärt. Sie werden als Verräter an der Sache des Islam und den Interessen der Muslime gebrandmarkt. Gerne steckt man sie in die Schublade der Islamophoben und wirft ihnen vor, Antipathien gegenüber ihren eigenen Glaubensbrüdern zu haben.

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