Das "Mittelmeer" der USA

Skyline von Tucson. Foto: US-Verkehrsministerium / gemeinfrei

Die Geflüchtetenkrise: Die Landschaft wird zur Waffe, das ist Teil der Politik

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Auch in den USA findet eine sogenannte Geflüchtetenkrise statt, die in den letzten Wochen und Monaten medial immer präsenter geworden ist. Die Geflüchteten, die das "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" erreichen wollen, stammen in erster Linie allerdings nicht aus Syrien, Irak oder Afghanistan, sondern aus südamerikanischen Staaten.

Die Antwort des mächtigsten Staates der Welt könnte brutaler nicht sein: Viele jener Menschen, die auf ein besseres Leben im Norden hoffen, finden nämlich einen grausamen Tod. Die Wüste an der südlichen Grenze zu Mexiko ist nämlich so etwas wie das "Mittelmeer Nordamerikas" geworden.

Hier ertrinkt man allerdings nicht. Stattdessen verdurstet man, und jene, die das in sehr vielen Fällen möglich machen, sind die Grenzschutzbeamten der United States Border Patrol. Die Aufgabe jener, die für diese Behörde arbeiten, ist nämlich nichts anderes als die Jagd auf Geflüchtete.

Mehrere, zum Teil sehr ausführliche Berichte haben den Berufsalltag der Grenzbeamten mittlerweile deutlich gemacht. In einem jüngst erschienenen Bericht der investigativen Medienplattform "The Intercept" schildert etwa ein anonymer Whistleblower namens Mario seine Erlebnisse bei der Border Patrol.

"Jagdkultur"

Er erinnert sich an seinen Vorgesetzten, der kleinen Kinder, die in der Wüste nahezu verdursteten, Wasserflaschen aus der Hand schlug und von seinen Angestellten, darunter auch Mario, "kein Mitleid" einforderte.

Gewalt gegen Geflüchtete war alltäglich. Eine "Jagdkultur", die sich gegen jene richtet, die vor Gewalt und Zerstörung fliehen, war Teil der Arbeit. Geflüchtete wurden drangsaliert, missbraucht und auch getötet. Laut Mario, der im Bundesstaat Arizona tätig gewesen ist, verstanden sich die meisten seiner Arbeitskollegen als moderne Cowboys, die den "Wilden" Westen im Zaum halten müssten.

Die Aussagen des Whistleblowers decken sich mit jenen anderer ehemaliger Grenzschützer. Ein Beispiel hierfür ist etwa Francisco Cantú aus Tucson, das ebenfalls im Bundesstaat Arizona unweit der mexikanischen Grenze liegt. Anfang des Jahres veröffentlichte Cantú ein Buch (No Man's Land:Leben an der mexikanischen Grenze) über seine ehemalige Arbeit.

Die Entmenschlichung von geflüchteten Menschen

Diese bestand hauptsächlich darin, Menschen in den Tod zu locken, wie Cantú, der selbst mexikanische Wurzeln hat, bekundet. Laut Cantú wird von den Grenzbeamten eine "Strategie" verfolgt, deren Hauptziel es ist, Geflüchtete von den Städten wegzuführen. Stattdessen werden sie in abgelegene und gefährliche Teile der Wüste gelockt, wo viele von ihnen sterben. "Die Landschaft wird zu einer Waffe, das ist Teil der Politik geworden", so Cantú.

Cantú selbst konnte diesen Alltag irgendwann nicht mehr ertragen. Er kündigte und begann, seine Erlebnisse aufzuschreiben. Doch der Todesjob an der Grenze verfolgt ihn weiterhin. Heute leidet Cantú an Traumata und Schlaflosigkeit.

Spätestens seit Beginn der Trump-Ära ist die Entmenschlichung von geflüchteten Menschen in der US-amerikanischen Politik zu etwas Alltäglichem geworden. Die Gewalt gegen jene, die in den Norden fliehen, ist allerdings seit Jahren gang und gäbe. Laut IOM wurden im Jahr 2017 412 tote Geflüchtete im Grenzgebiet gefunden. In den letzten zwei Jahrzehnten wurden in der Sonora-Wüste, die die USA von Mexiko trennt, mehr als 7.000 Todesopfer geborgen.

Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich um einiges höher. Seitens der Politik ist das Interesse für jene Menschen, die aus Staaten wie Honduras oder Guatemala fliehen, kaum vorhanden. In beiden Staaten wütete in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine aggressive US-Außenpolitik, vor deren Folgen die Menschen weiterhin fliehen.

Kriminalisierung von Flüchtlingshelfern

Doch ähnlich wie mit dem Sterben im Mittelmeer wird die desaströse Situation in der Wüste nicht von allen Menschen belanglos hingenommen. Vor allem in Tucson organisieren sich seit mehreren Jahren Aktivisten, die mit Wasser, Lebensmittel und aufgeschlagenen Zelten in die Wüste ziehen, um Geflüchteten zu helfen. Hinzu kommen Kampagnen, deren Ziel es ist, den Opfern der tödlichen Flüchtlingspolitik zu gedenken und in der Öffentlichkeit auf das Leid aufmerksam zu machen.

Ein gutes Beispiel hierfür ist die Arbeit des kolumbianischen Künstlers Alvaro Enciso, der in der Sonora-Wüste 600 Kreuze aufgestellt hat. Jedes von ihnen soll an ein Menschenleben erinnern. "Wenn Angehörige der Toten diese Kreuze sehen, wissen sie, dass es jemanden gibt, dem all das nicht egal ist. Ich will damit den Opfern, all diesen gefallenen Helden, ein wenig eine Stimme verleihen", so Enciso in einem Interview.

Doch, ebenfalls ähnlich wie in Europa, hat die Kriminalisierung von Flüchtlingshelfern stark zugenommen. Im vergangenen Januar wurde etwa der bekannte Aktivist Scott Warren nahe der mexikanischen Grenze von Grenzbeamten festgenommen. Ihm wurde vorgeworfen, "illegale Fremde zu beherbergen". Warren half Geflüchteten, indem er ihnen Wasser, Nahrung und Kleidung anbot. Für den Whistleblower Mario war die Festnahme Warrens einer der Hauptgründe, sich an die Öffentlichkeit zu wenden.

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