Idlib: Erdogans Spielräume und die Geduld Russlands

Bild: Kreml

Laut der russisch-türkischen Vereinbarung sollten heute die "radikalen, terroristischen Milizen" abgezogen sein. Bislang hat sich nichts getan

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Heute, am 15. Oktober, läuft das Ultimatum für den Abzug "aller radikalen terroristischen Gruppen in der demilitarisierten Zone" im syrischen Idlib ab. Festgelegt wurde das in Punkt 5 der russisch-türkischen Abmachung. Zu sehen ist davon noch nichts, wie der syrisch-amerikanische Beobachter Ehsani2 etwas hämisch anmerkte.

"Hat jemand gesehen, dass erstens HTS/Nusra, zweitens Hurras al-Din, drittens die Islamische Partei Turkistan oder viertens andere, die als "Terroristen" definiert werden, die Konfliktzone verlassen haben? Ich würde gerne Videos von Konvois sehen, die sich Richtung außerhalb der Pufferzone bewegen", fragt er.

Zumindest der größeren Öffentlichkeit sind bis 17 Uhr des heutigen Tages keine derartigen Videos der größeren Öffentlichkeit bekannt geworden. Anderseits sind auch noch keine klaren Abgrenzungen bekannt geworden, die das Gebiet der im Abkommen als "demilitarisierten Zone" definieren.

In der Schwebe halten

Dass dann immer wieder auch der Begriff "Pufferzone" ins Gewirr der unterschiedlichen Benennungen, "demilitarisierte Zone", "Deeskalationszone", geworfen wird, ist bezeichnend für eine Situation in der Schwebe, wo sich die Parteien scheuen, genaue Abgrenzungen zu treffen.

Was den Zeitraum betrifft, so hat kürzlich der russische Außenminister Lawrow einen gewissen Spielraum eröffnet. Auf einen oder mehr Tage komme es bei dem Abzug der "radikalen, terroristischen Milizen" nicht an, sagte er. (vgl. Idlib: Die erste Frist erfüllt). Dem fügte er jedoch auch an, dass die Regelungen für Idlib ohnedies "temporär" wären.

Denn irgendwann müsse das Gebiet dem legitimen Souverän, der syrischen Regierung, unterstellt werden. Damit ist der größere Horizont abgesteckt. Von der obersten Richtlinie leiten sich die anderen Regelungen ab.

Hay'at Tahrir asch-Scham vor dem Ende?

Für die größte terroristische Gruppe, die Miliz HTS (Hay'at Tahrir asch-Scham, hervorgegangen aus dem al-Qaida-Ableger al-Nusra-Front), die nach Schätzungen von Experten etwa mit 30.000 Mann in Idlib präsent ist und etwa 60 Prozent des Gebiets beherrschen soll, läuft dies auf die existenzielle Frage hinaus: "Sein oder Nichtsein".

Es gibt bislang keine Antwort darauf, wohin sie abziehen soll. Die syrische Regierung wird ihr, soweit bekannt, keinen Zufluchtsort bereitstellen. Die Türkei, die laut den Astana-Abmachungen, die der russisch-türkischen Vereinbarung zugrunde liegen, als Garantiemacht der oppositionellen Milizen fungiert, wird sie auch nicht aufnehmen. Jedenfalls nicht den Haufen, möglicherweise ein paar privilegierte Kommandeure, und dies wahrscheinlich ohnehin nicht offiziell.

Die syrische Regierung sendet, wie vom Außenminister aktuell noch einmal bekräftigt, das Signal, dass die Armee und ihre Verbündeten an den Grenzen zu Idlib bereit sind für eine Offensive "zur Auslöschung des Terrorismus, falls die Idlib-Vereinbarung nicht umgesetzt wird".

Die al-Nusra-Front, bzw. HTS gehören in der Wahrnehmung der Regierung in Damaskus nicht zu den Gruppen, mit denen man verhandeln will.

"Die Revolution weiterführen" - mit der Türkei?

Gestern veröffentlichte die Miliz nun ein Statement, das versucht, das Beste aus den Räumen zu machen, die, wie eingangs erwähnt, dadurch offenstehen, dass noch einiges in der Schwebe gehalten wird. Der für seine akribischen Umgang mit Dokumenten, oft dschihadistischer Herkunft, bekannte Spezialist Aymenn J Al-Tamimi veröffentlicht die Erklärung für alle Interessierten und der Sprache mächtigen auf Arabisch.

Als Quintessenz vermittelt er auf Englisch die Aussage, dass HTS nicht "vom Pfad des Dschihad und des Kampfes" abweichen werde, aber "ausdrücklich die Erwähnung der Türkei vermeidet". In der Auslegung des amerikanischen Beobachters Sam Heller, ein Mitarbeiter des Think Tanks International Crisis Group, bedeutet dies eine "stillschweigende Anerkennung" des Abkommens zwischen Russland und der Türkei - auch wenn die Miliz weitreichende Konzessionen, wie den Verzicht auf den bewaffneten Kampf ablehnen würde. Zudem betone man das Misstrauen gegenüber Russland.

"Wir werden die Wahl des Dschihad und des Kampfes nicht aufgeben, um unsere Revolution zu verwirklichen, der es in erster Linie darum geht, das kriminelle Regime zu stürzen", übersetzt Le Monde aus der HTS-Erklärung. Und: "Wir werden unsere Waffen nicht abgeben."

Laut der französischen Zeitung gibt es aber schon einen indirekten Verweis auf die Türkei: Die Miliz präzisiere, dass man "die Anstrengungen all' jener schätze, die im Inneren Syriens und außerhalb dafür kämpfen, dass die befreiten Zonen geschützt bleiben und die die Zerstörung dieser Gebiete und Massaker verhindern".

Das sind allesamt Spielchen. Es kommt nun sehr darauf an, was die Türkei daraus macht. Der zeitliche Spielraum, von dem oben die Rede war, ist ihrer und er kann sehr schnell eng werden. Lawrow akzeptierte, dass die schweren Waffen nicht wie verlangt abgegeben wurden - weder von HTS noch von der mit der Türkei sehr eng verbundenen anderen großen Milizenallianz, der Nationale Befreiungsfront (engl: National Liberation Front - NLF).

Die Waffen wurden lediglich versteckt, wie unterschiedliche Quellen hinwiesen. Lawrow wird das wissen, ihm ist allerdings die Abmachung wichtiger. Dass sie im Prinzip eingehalten wird, dass es nicht zum nächsten großen Blutvergießen kommt, bei dem Russland wieder schlechte Presse bekommt. Es geht nun auch darum, welche politische Könnerschaft Russland in Syrien an den Tag legt. Wie lange wird Russland aber Geduld dafür aufbringen, dass die HTS kein Zeichen des Abzugs gibt?

Es ist der türkische Geheimdienst MIT, der mit Vertretern von HTS in Verhandlungen steht. Schaut man sich an, was der Pressesprecher der mit der Türkei quasi befreundeten Nationalen Befreiungsfront NLF ("Wir haben sehr gute Beziehungen mit unseren türkischen Gefährten. Wir haben brüderliche Verbindungen und gemeinsame Interessen") zu deren Kampf sagt, dann zeigt sich eine Gemeinsamkeit mit HTS:

Wir schätzen die Rolle der türkischen Regierung und der Bevölkerung, die die Revolution der unterdrückten syrischen Bevölkerung unterstützen, seit diese mit den friedlichen Protesten angefangen hat. Die Türkei unterstützt weiterhin die Suche der syrischen Bevölkerung nach Freiheit, Würde und der Beseitigung von Ungerechtigkeit und Tyrannei.

Naji Mustafa, Sprecher der Nationalen Befreiungsfront NHL

Das sind, wie ersichtlich, ganz ähnliche Ziele, wie sie die Konkurrenz von der HTS verfolgt, aber ganz andere als die Russlands und der syrischen Regierung. Wie die türkische Regierung vor diesem Hintergrund den Spreizschritt hinbekommen will, dass Idlib eine Zone bleibt, in der sich die Umstürzler weiter aufhalten dürfen, harrt der Antwort.

Erdogan mittendrin

Ein zweites Afrin dürfte hier nicht möglich sein. Dazu kommt, dass sich beide Allianzen, HTS und NLF, nicht unbedingt freundlich gesinnt sind. Ob die türkische Regierung willens ist, mit der NLF die al-Qaida-Ableger zu vertreiben?

Zur gleichen Zeit nimmt das Thema Verschwinden von Khashoggi immer größere politische Dimensionen an, die Auswirkungen auf Kräfteverhältnisse im Nahen Osten haben können. Auch hier hat Erdogan wichtige Karten in der Hand und auch dieses Problem ist mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden.