Facebook-Löschungen: Manufacturing Consent

YouTube-Löschung. Screenshot: Jörg Gastmann

Facebook löschte kurz vor den US-Wahlen hunderte oppositionelle Seiten. Begründung: "Politische Propaganda". Gleichzeitig sperrte Twitter damit verbundene Accounts. Ein Beispiel für Noam Chomskys "Manufacturing Consent".

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Im April kündigte Mark Zuckerberg auf Druck des US Repräsentantenhauses die Löschung unerwünschter Inhalte durch 20.000 externe Überwacher an. Wie die Washington Post berichtete, nimmt es nun Fahrt auf. Den Anfang machte die Löschung von über 800 politischen Seiten, die den Zugang zu Millionen Followern verloren.

800 sind zwar eine noch relativ überschaubare Größe - aber ein bedenklicher Anfang für die Unterdrückung kritischer Meinungen. Mitsamt seiner Signalwirkung ist es eine Umsetzung von Noam Chomskys Manufacturing Consent (Produktion von Zustimmung): "Innerhalb der von uns zugelassenen Grenzen herrscht absolute Meinungsfreiheit."

Wo kann man etwas bewegen?

Mal angenommen, Sie sind ein Bürger, der nicht der Meinung ist, dass das politische und ökonomische System alternativlos ist. Wenn Sie daher politisch aktiv werden wollen, was tun Sie dann?

Engagieren Sie sich in den großen Parteien und versuchen, sie zu verbiegen? Eine Journalistin der Süddeutschen Zeitung berichtete in einer Printausgabe 2006 von einem Selbstversuch: Nacheinander trat sie in die CDU, SPD und FDP ein mit der (sinngemäßen) Ansage "Hallo, da bin ich, und ich habe viele neue Ideen." Reaktion der Parteien (sinngemäß): "Schön für Dich." In einer der über 100 Kleinparteien engagieren? Hat ohne Öffentlichkeit keine Chance.

Kritische Leserbriefe an Zeitungen und TV-Redaktionen schreiben? Dann erhalten Sie in der Regel allgemeine Textbausteine und dürfen weiter passiv konsumieren. Twittern? Wenn Sie kein Promi sind, erreichen Sie bestenfalls ihre Freunde. Petitionsausschuss des Bundestags? Hat bisher alle Petitionen abgebügelt, die nicht im Interesse der Regierungsparteien sind. Bloggen? Die wichtigsten Blogs sind eine Vollzeit-Teamarbeit mit hohem finanziellem Aufwand.

Keine Demokratie ohne freie öffentliche Debattenräume

Professor Rainer Mausfeld formulierte das Problem der Massenmedien unter anderem wie folgt:

Der öffentliche Debattenraum ist das Herzstück der Demokratie. Seine Funktion kann er jedoch nur erfüllen, wenn er ... intakt ist. Da nun die Medien den öffentlichen Debattenraum erst konstituieren, müssen sie so beschaffen sein, dass sie ihn nicht zugunsten mächtiger Interessengruppen verzerren … Solange zentrale Bereiche einer Gesellschaft, und dazu gehören insbesondere die Wirtschaft und die Medien, einer demokratischen Kontrolle entzogen sind, kann es keinen unverzerrten und allen gleichermaßen offen stehenden öffentlichen Debattenraum geben, womit dann insgesamt die Bedingung der Möglichkeit von Demokratie entfallen ist.

(Rainer Mausfeld)

Kurz gesagt: Ohne einen frei zugänglichen, unverzerrten und unzensierten öffentlichen Debattenraum gibt es keine Demokratie.

Die gefährlichste politische Plattform

Mangels Alternativen ist Facebook (noch) der einzige relevante öffentliche Debattenraum, in dem Normalbürger nennenswert viele andere Menschen erreichen und sich mit ihnen vernetzen können. Facebook besitzt - neben YouTube - als "Informationsstruktur abseits des Mainstreams" fast schon das Monopol als politische Plattform einfacher Bürger und Bürgerbewegungen. Wobei auch YouTube (nicht nur) politisch unliebsame Kanäle löscht und spätestens auf Grundlage des neuen EU-Urheberrecht mit Uploadfiltern Inhalte blockiert, bei denen gar nicht klar ist, ob sie illegal sind. Widerspruchsmöglichkeiten: Keine. Rechtsanwalt Christian Solmecke erläutert in diesem Video die Fehlkonstruktion dieser neuen Rechtsnorm.

Da die Massenmedien ihren Einfluss verlieren, sind Publikationen, Kampagnen und Diskussionen auf Facebook (und YouTube) zumindest ein Zünglein an der politischen Waage, wenn nicht bereits ein Epizentrum politischer Beben. Das macht diese beiden Plattformen enorm gefährlich für die Mächtigen. Spätestens seit den von Facebook-Aktivisten begleiteten Aufständen des "Arabischen Frühlings" sperrten Diktaturen alle sozialen Netzwerke, die sie nicht selbst kontrollieren.

Nach den Anhörungen im US Congress und im EU-Parlament muss Mark Zuckerberg klar geworden sein, dass dies auch in den USA und der EU früher oder später kommen kann. Für demokratische Hemmungen ist Donald Trump nicht bekannt. Dann wäre Facebook erledigt. Folglich versprach Zuckerberg, alles zu löschen, "was dafür sorgt, dass sich Leute in der Gemeinschaft unsicher fühlen".

Aber ist es nicht das demokratische Grundrecht jedes Staatsbürgers, selbst zu entscheiden, von wem oder was man sich "verunsichern" lassen möchte, welchen Seiten und Personen mal folgen will und in welchen Gruppen man sich zusammenschließt? Aufschlussreicherweise erlaubt Facebook den Nutzern nicht, selbst genau zu konfigurieren, was sie sehen wollen. Der Algorithmus definiert die Informationsblasen.

27.000 Informationskrieger des Pentagon

Die Washington Post nennt im eingangs erwähnten Artikel Forderungen nach Löschung und Zensur im Zusammenhang mit den 12 russischen Hackern, die 2016 angeblich via Facebook die Wahl in den USA zugunsten Trumps beeinflusst haben sollen.

Zum Vergleich: Der Schweizer Tagesanzeiger berichtete bereits am 12.02.2009 von 27.000 Pentagon-Angestellten, deren Job es ist, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Die Pentagon-Dienststelle "Joint Hometown News Service" produziert demnach massenhaft Texte und Bilder, die "unter falschen Quellenangaben den Medien zugespielt würden", darunter 3.000 TV-Spots allein 2009.

Tom Curley, bis 2012 Leiter der Nachrichtenagentur Associated Press, erklärte in einem Vortrag vor Journalisten an der Universität von Kansas, "hohe Generäle hätten gedroht, dass man die AP und ihn ruinieren werde, wenn die Reporter weiterhin auf ihren journalistischen Prinzipien beharren würden."

Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass Facebook und Twitter binnen weniger Stunden nicht nur die gleichen systemkritischen Medienseiten löschten. Sie sperrten auch damit in Verbindung stehende persönliche Twitter Accounts, wie zum Beispiel den der Antimedia Chefredakteurin Carey Wedler. Das sendet auch das Signal an alle anderen Seitenbetreiber: Postet selbst auf Euren privaten Accounts keine politischen Meinungen, sonst droht Euch die Löschung.

Alle Nutzer, die darüber informiert sind, haben nun eine Schere im Kopf: "Kann ich das posten bzw. teilen? Lieber nicht, sonst könnte mein Account gelöscht werden." Auf diese Weise geht immer weniger "viral". Das Ergebnis ist eine Orwellsche Dystopie. Cui-bono-Frage: Wer hat die Macht und die Motivation, Facebook und Twitter zum Synchron-Löschen zu bringen?

Das größte F*ck You der Menschheitsgeschichte

Kommen wir auf die Argumentation der russischen Hacker zurück. Was wird ihnen vorgeworfen? Sie hätten mit den gehackten Podesta-Emails geheime, aber wahre Informationen über Hillary Clinton via Facebook geteilt.

Nicht nur Republikaner, sondern auch frustrierte Demokraten-Anhänger streuten unter dem Hashtag #bernieorbust in zahllosen Facebook-Kommentaren Wahrheiten über Hillary Clinton: Über 50 Millionen $ "Rede-Honorare" für Reden vor Banken - und Clintons Redeinhalt, "die Banken wüssten am besten, welche Regulierungen sinnvoll sind". Sie stimmte für den Patriot Act, für Kriegseinsätze gegen Irak, Afghanistan, Libyen und Syrien, für profitorientierte Gefängnisse, für TTIP und NAFTA, gegen eine CO2-Steuer, ursprünglich für die Keystone Pipeline, und bis 2010 gegen die Rechte Homosexueller. Edward Snowden will sie als Verräter verurteilt sehen.

Kurz gesagt: Clinton stimmte in allen diesen (und vielen anderen) Entscheidungen so wie die Republikaner, Sanders stimmte dagegen. Diese vor allem bei Facebook geteilten Fakten brauchten nur genügend Sanders-Anhänger zu motivieren, nicht für Clinton zu stimmen, um Trump siegen zu lassen. Für die US Democrats gibt es keinen Grund, sich darüber zu beschweren: Wer in den USA nicht Sanders in den Vorwahlen wählte, hat Trump verdient.

Selbst wenn es keine russischen Hacker und Anti-Clinton-Postings gegeben hätte, sah Trump-Gegner Michael Moore im Oktober 2016 in diesem Video voraus, warum Trump am 08.11.2016 die Wahl gewann: Die Stimmen der Mittelschicht für Trump und gegen Clintons "weiter so" sind "das größte F*ck You in der Geschichte der Menschheit". Auch in Deutschland haben das die Eliten selbst nach Trump, Brexit, Salvini, Schwedendemokraten, FPÖ und AfD offiziell noch nicht erkannt.

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