Warum nur Comics gegen Manfred Spitzer helfen

Grafik: TP

Er ist wieder da

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Manfred Spitzer hat ein neues Buch geschrieben. Nach todbringenden Bildschirmen (2005), digitaler Demenz (2012), dem krankmachenden Internet (2015) und der ansteckenden Einsamkeit von Menschen, die sich in der Virtualität verlieren (2018a), nimmt er nun mit dem epidemischen Smartphone (2018b) gleichsam den digitalen Bossgegner ins Visier. Viele fragen sich seit Langem, wie man Spitzer in die Schranken weisen kann. Die überraschende Antwort lautet: nur durch Comics!

Das Problem

Es ist ein echtes und wiederkehrendes Ärgernis: Wann immer in Deutsch- bzw. Neuland über digitale Themen diskutiert wird, bestätigt Manfred Spitzer auf allen medialen Kanälen kulturpessimistische Ur-Ängste. Das gut sortierte Schreckens-Kabinett des Doppel-Doktors erstreckt sich vom drohenden Verlust der Wirklichkeit über irreversible Entwicklungsschäden bis hin zur nahenden Bildungskatastrophe. Und am studiengestählten Harnisch aus Empirie, Pseudo-Empirie, Wissenschaft, Pseudo- Wissenschaft und bewahrpädagogischer Ideologie prallen selbst die argumentativen Waffen ausgewiesener Netzkapazunder wirkungslos ab. Das musste z.B. Sascha Lobo erleben, den der Ulmer Psychiater 2017 bei Anne Will fast aus dem Studio brüllte.

Um den steten Ärger zu beenden, könnte man ganz einfach von seiner Filterkompetenz Gebrauch machen und Spitzer auf eine globale Ignore-Liste setzen. Das eigentliche Problem wird dadurch jedoch nicht gelöst. Denn das besteht in der immensen Breitenwirkung, die Spitzers Thesen entfalten. Vor allem diejenigen, die Twitter nur aus der Tagesschau kennen, alles Virtuelle für unwirklich halten, stolz darauf sind, die Social Media zu meiden, und sich wahlweise durch oberflächliche Talkshows oder reißerische Trash-TV-Reportagen über die Welt des Digitalen informieren, sehen in Spitzer einen willkommenen Bündnisgenossen, der ihre Bedenken professoral veredelt.

Insbesondere im gesellschaftlichen Diskurs über digitale bzw. zeitgemäße Bildung hat Spitzer durch diese populär-mediale Hintertür einen nicht zu unterschätzenden Einfluss: Wenn an Schulen beispielsweise darüber diskutiert wird, ob (!) ein leistungsfähiges WLAN eingerichtet werden soll, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ein Elternteil oder ein(e) Lehrer(in) auf die drohende Gefahr durch Strahlung und die verheerenden Folgen des Internetkonsums hinweist und sich dabei auf Spitzer beruft. Jedes noch so absurde Smartphone-Verbot lässt sich auf diese Weise scheinbar wissenschaftlich rechtfertigen. Schließlich sollen die Schüler(innen) endlich wieder in der echten Welt miteinander spielen, reden, lachen und auf Bäume klettern, statt nur mit leerem Blick auf ihre Displays zu starren.

Solche Denkweisen als unreflektiert und unhaltbar zu entlarven, kostet immer sehr viel Zeit, die man - insbesondere in Debatten über das Bildungssystem - selten hat. Das kann z.B. der Hamburger Medienpädagoge Jöran Muuß-Merholz leidvoll bestätigen, der sich jüngst in der als seriös und faktenorientiert getarnten Talkshow-Simulation Hart aber fair neben Spitzer wiederfand und kaum zu Wort kam.

Was bleibt, ist das gallige Echo unwidersprochener Spitzer-Phrasen, auf die sich die ewig rückwärtsgewandten Skeptiker stützen, um schulische Innovationen zu verhindern.

Keine Lösung: Journalisten und Wissenschaftler

Man könnte hoffnungsvoll annehmen, dass es ein Leichtes sei, Spitzer journalistisch oder besser noch: wissenschaftlich zu entzaubern. Doch die Dinge liegen kompliziert.

Auf der einen Seite gibt es das Heer der selbsternannten "Bildungs"-Journalisten, die immer wieder den gleichen Text mit der Überschrift "Das Ende der Kreidezeit" schreiben, selbst von behavioristischen LearningApps aus Skinners Lernkiste begeistert sind, digitale Arbeitsblätter und Kahoot als Formen zeitgemäßer Bildung feiern und jede Woche Schüler(innen) vor Whiteboards fotografieren. Aus ihren Reihen droht Spitzer keinerlei Gefahr.

Auf der anderen Seite lassen sich durchaus feuilletonistische Texte finden, in denen die argumentativen Tricks des Hirnforschers offengelegt werden: angefangen bei der systematischen Interpretation von Korrelation als Kausalität über angstmachende Analogien bis hin zum selektiven Zitieren des Datenmaterials. Doch diese klugen Texte - exemplarisch sei auf Stöcker (2018) und Stremmel (2018) verwiesen - werden in der Regel nur von denen gelesen, die schon lange wissen, dass Spitzer beim Thema Digitalisierung kein ernstzunehmender Ansprechpartner ist. Die intellektuellen Wirkungstreffer des Feuilletons erscheinen daher nur selten auf dem Radar der Spitzer-Jünger. Den Meister selbst ficht das kritische Zeitungs-Rauschen nicht an. Er kann es geflissentlich ignorieren.

Nur dann, wenn ernstzunehmende Angriffe aus der Wissenschaft kommen, setzt Spitzer höchstselbst zur Riposte an. Das konnte man beobachten, als sich der Psychologieprofessor Markus Appel gemeinsam mit seiner Kollegin Constanze Schreiner in der Fachzeitschrift Psychologische Rundschau anschickte, Spitzers Thesen zur digitalen Demenz (2012) als populäre Mythen zu entlarven, die keine hinreichende wissenschaftliche Grundlage besitzen (vgl. Appel/Schreiner 2014).

Spitzer reagierte umgehend mit einem Aufsatz, der zeigen sollte, dass die Aussagen von Appel und Schreiner einer kritischen Überprüfung nicht standhalten. Akribisch widmete er sich Kritikpunkt für Kritikpunkt und konterte jede Studie, die seinen Thesen zu widersprechen schien, mit einer anderen Studie, die vermeintlich zeigte, dass er doch richtig liegt (vgl. Spitzer 2015). Für einen kurzen Moment stand es unentschieden.

Zeitgleich mit Spitzers Replik wurde jedoch die Replik auf diese Replik veröffentlicht, in der Appel und Schreiner erneut ihre Position verteidigten. Spitzer werden methodische Fehler unterstellt, die Relevanz der zitierten Studien wird angezweifelt ("Wäre Facebook bei Affen ebenso beliebt wie bei Menschen?", Appel/Schreiner 2015, S. 120) und wiederum lautet das Fazit, dass Spitzer wissenschaftlich kaum haltbare Behauptungen macht, inkorrekte Informationen streut und Halbwahrheiten verbreitet.

Dieses Meta-Analysen-Ping-Pong-Spiel erweckt den fatalen Eindruck, dass am Ende nicht wissenschaftliche Argumente, sondern persönliche Überzeugungen entscheiden, wer in der Debatte die Oberhand behält. Die einen nehmen Spitzers Replik zum Anlass, den Disput als endgültig entschieden zu betrachten, die anderen erklären das Team Appel/ Schreiner zum Sieger.

Kurz: Es scheint um Ideologie statt um Wahrheit zu gehen. Weder Feuilleton noch Fachblatt sind probate Mittel, um Spitzers Einfluss einzuhegen. Man muss neue Wege beschreiten.

Die Lösung

Während die Medienpädagogen noch grübeln, wie man Spitzer Einhalt gebieten kann, haben die Comiczeichner längst gehandelt. Sie schufen bereits 2010 eine Entenhausener Kunstfigur, die im italienischen Original "cavaliere analogico" heißt und die den prototypischen Kritiker digitaler Medien karikiert.

Für die deutsche Übersetzung diente dann unzweifelhaft Manfred Spitzer als landesspezifische Blaupause. Die Rede geht von Ritter Analog, der im Lustigen Taschenbuch Nr. 407 seinen ersten Auftritt hatte.

Ritter Analog heißt im wahren Leben Prof. Dorian Dampfrössel, seines Zeichens Direktor des Entenhausener Technikmuseums - und damit von Berufs wegen konservativ. Er ist zutiefst davon überzeugt, dass es notwendig ist, "die Jugend vor der Vielzahl der virtuellen Versuchungen zu bewahren" (LTB 407, S. 37), mit "Mut und Entschlossenheit den elektronischen Exzessen unserer Zeit die Stirn [zu] bieten" (LTB 407, S. 38) und "die nachfolgende Generation vor diesen Gefahren zu schützen" (ebd.). Des Nachts verwandelt sich der Professor dann in den Superhelden Ritter Analog, der bedingungslos gegen digitale Technik kämpft:

Abb. 1: Auftritt Ritter Analog. Bild: LTB 407: Voll unter Dampf. Story: Riccardo Pesce. Zeichnungen: Vitale Mangiatordi. Berlin: Ehapa 2010. S. 30-63. Hier S. 46. © Disney

Wie jeder klassische Superheld hat auch Ritter Analog eine backstory, die erklärt, wie der nette Dorian zum zerstörerischen Wüterich wurde: Als Jugendlicher wurde er gemobbt, weil er auf dem Rasen statt auf der Konsole spielen wollte, und als Erwachsener scheiterte ein Date, weil eine Frau seinen handschriftlichen Brief zu spät erhielt und sich bereits per E-Mail mit einem Nebenbuhler verabredet hatte.

Jahre später ist seine Rache fürchterlich: Ausgerüstet mit einem dampfbetriebenen Analogstrahler reitet er auf einer mechanischen Mähre durch Entenhausen und zerstört jedwede Form elektrischer Technik. Seine Ziele: die "digitale Drangsal" zu beenden und ein "neues Zeitalter der analogen Annehmlichkeiten" (LTB 407, S. 52) zu begründen.

Selbstredend kann diesem Bösewicht nur eine Ente Einhalt gebieten: Donald Duck in seiner Rolle als maskierter Rächer Phantomias. Das erste Duell der beiden entscheidet Phantomias knapp für sich, Ritter Analog kann jedoch entkommen, seine wahre Identität bleibt im Dunkeln. Im Lustigen Taschenbuch Nr. 422 kommt es zum zweiten Aufeinandertreffen. Diesmal sorgt Ritter Analog mit Hilfe eines Rückbesinnungsduftes dafür, dass moderne Technik durch alte ersetzt wird: Elektrische Straßenlaternen verwandeln sich in Gaslaternen, Smartphones in Telefonzellen.

Erneut gelingt es Phantomias, den Ritter zu besiegen, der am Ende einer gewaltigen Schlacht die Erinnerung an seine Geheimidentität verliert. Den bislang letzten Auftritt hat Ritter Analog im Lustigen Taschenbuch Nr. 445. Als rühriger "Mister Vintage" führt er nach seiner partiellen Amnesie ein neues Leben und verkauft auf dem Wochenmarkt nostalgische Technik. In einer Rückblende wird nicht nur überdeutlich, dass Ritter Analog tatsächlich Spitzers Comic-Alter-Ego ist, es wird auch klar, wie man mit Manfred Spitzer in Entenhausen umgehen würde. Denn Donald gibt auf die wirren Thesen des Ritters, der sich als "kompromissloser Kämpfer gegen die digitale Dekadenz" (!) vorstellt, die einzig sinnvolle Antwort:

Abb. 2. Bild: LTB 445: Von Viren geplagt. Story: Riccardo Pesce. Zeichnungen: Roberto Vian. Berlin: Ehapa 2013. S. 193-221. Hier S. 195. © Disney

Auf den ersten Blick scheint es, als brauche man tatsächlich einen Superhelden wie Phantomias, um Manfred Spitzer in die Schranken zu weisen. Auf den zweiten Blick wird jedoch ein Phänomen sichtbar, das man medienpädagogisches Nudging nennen könnte und das uns hoffnungsvoll stimmen sollte: Denn die (jungen) Leser(innen), die sich mit Phantomias und der Seite des Guten identifizieren, werden als Erwachsene in Manfred Spitzer sofort eine lebensweltliche Inkarnation des analogen Ritters erkennen, der schon in Entenhausen auf der falschen Seite kämpfte und den man nicht allzu ernst nehmen sollte. Was weder Journalismus noch Wissenschaft gelingt, kann Phantomias also locker leisten.

"Lest mehr Comics!" muss daher der Wahlspruch der Aufklärung wider die Spitzer’schen Verrücktheiten lauten.

Kulturhistorisches Postscriptum

Ein Blick in die Medien- bzw. Kulturgeschichte zeigt, dass die hier heiter und ironisch vorgetragenen Überlegungen einen durchaus ernsten Hintergrund besitzen. Denn in den 1950er Jahren profilierte sich der Psychologe Fredric Wertham in Amerika als besonders besorgter Kämpfer gegen die verwerfliche Verführung der Jugend durch die kommerziell erfolgreichen Crime Comic Books und Horror Comic Books. In seinem Bestseller Seduction of the Innocent (1953) vertritt er unter anderem die These, dass das noch leicht (ver)formbare moralische Empfinden des Kindes durch Comics nachhaltig negativ beeinflusst wird.

In einer Anhörung vor dem amerikanischen Senat, in der die Auswirkungen von Comics auf die Jugendkriminalität thematisiert wurden, hatte Wertham 1954 die Gelegenheit, seine Theorie der maliziösen Medienwirkung detailliert zu erläutern: Comics galten in seinem Urteil als massenhaft verbreitete Lehrbücher für angehende Kriminelle.

Nicht zuletzt die Thesen Werthams lösten in Amerika "einen wahren Feuersturm der Anti- Comic-Hysterie" (McCloud 2001, S. 90) aus, der zu einer Selbstverpflichtung der Comic- Verleger führte, auf bestimmte Inhalte zu verzichten: Das Siegel Approved by the Comics Code Authority erhielten fortan nur noch solche Druckerzeugnisse, in denen das Gute stets über das Böse siegte, die weder "Horror" noch "Terror" im Titel führten, in denen keine Zombies, Vampire oder Werwölfe vorkamen etc. (vgl. hierzu Krommer/Jost 2011). Werthams ideologische Zündeleien gipfelten schließlich darin, dass Comics öffentlich verbrannt wurden.

Jede Gesellschaft bekommt den "cavaliere analogico", d.h. den Spitzer, den sie verdient. Es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet die Comic-Gilde, die unter dem amerikanischen Spitzer der 1950er Jahre so sehr zu leiden hatte, nun auf subtile Weise versucht, den gesellschaftlichen Einfluss (nicht nur) des deutschen Spitzers der Gegenwart zu untergraben - bevor am Ende Smartphones öffentlich geschreddert werden.