Ausgewiesen! Berlin, 28.10.1938

Nürnberg, Ausweisung polnischer Juden. Bild: Bundesarchiv, Bild 146-1982-174-27 / Großberger, H. / CC-BY-SA 3.0

In diesen Tagen jährt sich zum 80ten Mal eine weitgehend vergessene Aktion, mit der NS-Deutschland die Grenzen des Unrechts austestete. Heute, wo der Faschismus für die Märkte wieder eine Option ist, ist es notwendig, sich zu erinnern

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"Die Aktion wurde von der Polizei mit großer Brutalität durchgeführt. Den unglückseligen Opfern wurde kaum Zeit gelassen, ihre Bündel mit den dürftigen Habseligkeiten zusammenzupacken…. Mütter mit kleinen Kindern stolperten und vielen die Treppe hinunter. Gepäckstücke, notdürftig in Minutenfrist zusammengebündelt, fielen auseinander und gossen ihren Inhalt über die Straße. Greise und Krüppel wurden roh in die bereitgestellten Polizeiautos gestoßen. Es war ein Bild des Grauens."

So beschrieb ein Betroffener eine Judendeportation, die sich in diesen Tagen zum 80ten Mal jährt und doch in der Geschichtsschreibung und der öffentlichen Aufmerksamkeit weitgehend vergessen ist.

Es handelt sich um eine Aktion, die mit der falschen Bezeichnung "Polenaktion" in die Geschichte einging, der Begriff wird heute mit Recht nur noch in Anführungsstrichen gesetzt. Denn es war das NS-Regime, das am letzten Oktoberwochenende 1938 über 17.000 Menschen aus ihren Wohnungen verschleppte und an die polnische Grenze deportierte. Die oben zusammengefasste Schilderung von Abraham Szanto zeigt deutlich, mit welcher Brutalität und Menschenverachtung diese Deportation von den willigen deutschen Vollstreckern ins Werk gesetzt wurde.

Betroffen waren vor allem jüdische Migrantinnen und Migranten, die aus Polen nach Deutschland eingereist waren. Für viele war Berlin ein Sehnsuchtsort, auch wenn sie dort überwiegend ein sehr kümmerliches, heute würde man sagen: prekäres Leben hatten, zogen viele es doch der Armut und den Verfolgungen in den osteuropäischen Ländern vor. Deswegen war Berlin der Ort, von dem vor 80 Jahren ein Großteil der Menschen deportiert wurde. Aber auch aus vielen anderen größeren und kleineren Orten Deutschlands wurden die Jüdinnen und Juden an die polnische Grenze deportiert.

Einige Dokumente sind in dem sehr informativen, im Metropol Verlag erschienenen Buch "Ausgewiesen Berlin, 28.10.1938 dokumentiert. Das Buch ist eine Fundgrube, gerade weil über diese unmittelbare Vorgeschichte der Shoah so wenig bekannt ist. Es ist eigentlich als Katalog zu der in Berlin noch bis zum Jahresende im Berliner Judaicium gezeigten Ausstellung zu der Deportation konzipiert worden, ist aber vor allem eine sehr gute Einführung auch in die geschichtlichen Hintergründe der Ereignisse vor 80 Jahren.

Der polnische Antisemitismus wird dort ebenso wenig ausgespart, wie die Hoffnung mancher zeitgenössischer Vertreter der damals noch minoritären zionistischen Strömung in der jüdischen Bewegung, dass die antisemitischen, nationalistischen Bewegungen, beispielswiese in Polen, den Aufschwung einer Bewegung bringen könnte, die immer betonte, dass wegen des Antisemitismus in Europa die Jüdinnen und Juden einen eigenen Staat brauchen und sie die Assimilation in die europäischen Mehrheitsgesellschaften nicht vor Verfolgung schützen würde. Die Shoah hat diese Prämisse der zionistischen Bewegung leider aufs Grauenhafteste bestätigt und manche der Shoah-Überlebenden, die vor 80 Jahren den Zionisten widersprochen haben, machten sich später Vorwürfe deswegen. Vielleicht hätten mehr Juden vor der Shoah gerettet werden könnten, wenn die zionistische Theorie und Praxis schon damals unter der jüdischen Bevölkerung stärker verankert gewesen wäre?

Die stigmatisierten Ostjuden

Diese Frage muss offenbleiben. Klar ist hingegen heute, dass die Judendeportationen, die in manchen Städten von einem deutschen Mob befeuert wurden, ein Test des Regimes waren, wie weit sie mitten in Europa mit der Entrechtung von Menschen gehen konnten. Es gab nach dem 31.1.1933 viele Ereignisse, mit der die antisemitische Politik vor aller Augen ins Werk gesetzt wurde.

Das begann mit dem von massiver Hetze, tätlichen Angriffen und Morden begleitete Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933, der ganz bewusst eine Kampfansage an die europäische, ja an die Weltöffentlichkeit insgesamt war. Damals wurden im Ausland massive Gegenreaktionen, beispielsweise ein Wirtschaftsboykott, diskutiert, aber nie umgesetzt. In den Folgejahren wurde das NS-Regime von den Regierungen in aller Welt hofiert. Mitte der 30er Jahre schätzte man in der bürgerlichen Welt ein Regime, das mit Klassenkampf, Streiks und allen Linken Schluss gemacht hatte und die Roten ins Exil oder ins KZ getrieben hat. Höhepunkt dieser Anerkennungspolitik war die Olympiade im Jahr 1936, wo deutlich wurde, wie sehr die bürgerliche Welt und der NS harmonisierten.

Natürlich gab es im Teilen des Bürgertums, in Deutschland vor 1933 ebenso wie im Ausland, manche Irritationen über die besonders rohe Gewalt und die Vulgärspräche des NS. Da aber die Feinde die gleichen waren, sah man darüber gerne hinweg. Auch den Antisemitismus teilte ein Großteil der bürgerlichen Welt in- und außerhalb Deutschlands mit dem NS. Schließlich gehörten die sogenannten Ariergesetze, die Juden aus bestimmten Vereinen, aus akademischen Gesellschaften, aber auch von Badestränden (http://buecher.hagalil.com/fischer/bajohr.htm) ausschloss, zum Repertoire des bürgerlichen Deutschlands, als die NSDAP noch gar nicht gegründet worden war.

Auch das Feindbild des Ostjuden teilten Nazis und ihre anfänglichen bürgerlichen Kontrahenten und spätere Bündnispartner. Mit der Konstruktion vom Ostjuden gegen die arme Einwanderer, die angeblich die Gesellschaft unterwandern, wurde die Angst vor einer fremden "Kultur" ebenso aufgerufen wie die Furcht vor Revolution und Rebellion. Im Zweifel war der so imaginierte "Ostjude" sowohl für einen angeblichen Kulturverfall, für revolutionäre Umtriebe, als auch für die kapitalistische Ausbeutung verantwortlich. Es war kein Zufall, dass die Deportationen vor 80 Jahren sich zunächst gegen diese Bevölkerungsgruppe richteten. Man hatte sie über Jahre derart stigmatisiert, dass man hier zeigen konnte, wie weit man vor aller Augen mit der Entmenschlichung gehen konnte.

Testlauf für die Shoah

Für die Nazis und ihre willigen Vollstrecker in Deutschland lief dieser Test erfolgreich ab. Es gab keinen kollektiven Aufschrei der sogenannten zivilisierten Welt. Was den Opfern der Deportation damals noch meist das Leben rettete, war eine Solidarität an der polnischen Grenze. Anwohner leisteten Überlebenshilfe und unterstützten die Deportierten. Die Unterstützung von jüdischen Hilfsorganisationen vor allem aus den USA sorgte dafür, dass sich zumindest ein Teil der Betroffenen aus dem unmittelbaren Herrschaftsbereich des NS in Sicherheit bringen können.

Doch vielen gelang es nicht zu fliehen. Sie wurden von ihren Verfolgern und dann auch ihren willigen Helfen aus verschiedenen europäischen Ländern gejagt. Viele kamen in der Shoah um. Auch Herschel Grünspan überlebte den NS. Er setzte mit der Attacke auf den deutschen Attaché in der Schweiz ein militantes Zeichen gegen die Judendeportation, von der auch seine Eltern und Verwandten betroffen waren. Das NS-Regime nahm die Attacke zum Vorwand für die Reichspogromnacht und diese Lesart wurde auch häufig in den Geschichtsbüchern übernommen. So wurde doch wieder die Schuld für den Antisemitismus beim Juden gesucht. Tatsächlich gehört Grünspan in die Reihe jener jüdischen Kämpferinnen und Kämpfer gegen den NS, deren Würdigung auch heute noch oft aussteht.