Die Sünde der Homophobie

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Weltweit ist die römische Kirche vermutlich der größte Arbeitgeber von Homosexuellen, doch sie verweigert sich minimalsten Menschenrechtsstandards

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Nach einer internationalen Konferenz im April 2016 habe ich mir jenen schwulen Kleriker-Kalender gekauft, der in Roms Souvenirläden zum festen Sortiment gehört. Das Thema ist überaus ernst, aber beim Durchblättern des Kalenders geriet ich gemeinsam mit einer katholischen Publizistin aus den USA in ein befreiendes Lachen. Die Bäuche taten uns weh, als wir auf der letzten Seite angekommen waren.

Aus meiner eigenen Lebensgeschichte und vielen Begegnungen mit anderen Theologen weiß ich, dass Homosexuelle im letzten Jahrhundert zumeist unbewusst - noch ohne eigenes Erwachen - den Weg zum Beruf des zölibatären Priesters gewählt haben. Vor den gesellschaftlichen Umwälzungen, die Ende der 1980er Jahre einsetzten, gab es in schwulen Biographien viel Bedrückendes, aber nur wenig "freie Wahl". Wer sich selbst nicht kennenlernen darf, wird eben durchs Leben getrieben.

Nach Weisung einer speziellen Vatikanbehörde kann es schwule Priester gar nicht geben. Der Anteil von Homosexuellen in der römisch-katholischen Priesterschaft ist jedoch hoch, sehr hoch. Menschen, die mehr als nur oberflächlich mit der Kirche in Berührung kommen, wissen das auch. Viele Gemeinden sind dankbar für ihre homosexuellen Seelsorger und würden diesen im Konfliktfall auch jede Rückendeckung geben.

Den besten Überblick haben freilich die Ortbischöfe und die Personalchefs der Bistümer. Für sie wäre es ein Supergau, wenn der Anteil von Homosexuellen im Klerus im öffentlichen Diskurs auf einem nur annähernd realistischen Niveau zur Sprache käme.

Der "pastorale Lösungsversuch" von Franziskus

Das Thema "Homosexualität"ist vermutlich der entscheidende Schlüssel zum Verständnis des Dramas eines reformunfähigen Kirchenapparates, der am ständisch-klerikalen Irrweg eines ganzen Jahrtausends festklebt und deshalb die vom gegenwärtigen Papst formulierten Herausforderungen für ein zukunftsträchtiges Christentum nicht angehen kann.

Bischof Franziskus von Rom, der selbst erwiesenermaßen nicht homophob ist, hat seit Amtsantritt das Minenfeld der doktrinären Auseinandersetzung gemieden. Stattdessen wählte er eine pastorale Lösung und ließ die Welt im Sommer 2013 scheinbar beiläufig wissen: "Wer bin ich, Homosexuelle zu verurteilen?"

Dieser Weg eines freundlichen Signals hätte an sich für die Kirche explosive Problemfelder auflösen und ungeahnte Energien für das Franziskus-Programm einer wieder an Jesus orientierten Kirche freisetzen können: Das Ausmaß an Freudlosigkeit, Frust und fehlender Selbstannahme im Klerus wäre enorm verringert worden.

Die Institution müsste bei einer wohlwollenderen Grundhaltung auch weitaus weniger fürchten, dass mehr öffentliche Transparenz hinsichtlich des Anteils an Homosexuellen bis hinein in die höchsten Etagen der Kleriker-Hierarchie für sie zu einem Pulverfass wird. Homosexuelle können ja genauso gute - oder schlechte - Diakone, Erzbischöfe und Päpste werden wie Heterosexuelle …

Homosexuelle Priester als Sündenbock

Doch der pastorale Lösungsweg unter Verzicht auf eine doktrinäre Klärung funktionierte nicht. Die aberwitzige Konstruktion, der zufolge Priesteramtskandidaten auferlegt wird, etwaige "homosexuelle Neigungen" alsbald nach Eintritt in ein Institut wie eine Infektionskrankheit ganz zu überwinden, wurde beibehalten und von der Kurie im Franziskus-Pontifikat erneut eingeschärft.

Der rechte Flügel der Hierarchie griff außerdem dreist auf seine alte - perfide - Strategie zurück, Homosexuelle angesichts der Abgründe an Klerikergewalt gegen Kinder und andere Schutzbefohlene zum Sündenbock zu machen. Zuletzt hat Erzbischof Carlo Maria Vigano, ehemaliger Nuntius in den USA, in seiner gegen Papst Franziskus gerichteten Briefkampagne vom August dieses Jahres pädosexuelle Verbrechen und Homosexualität wieder in einer Topf geworfen.

Nicht Homosexualität, sondern Homophobie begünstigt sexuelle Gewalt

Damit werden die Sachverhalte jedoch förmlich auf den Kopf gestellt. Nicht Homosexualität im Klerus, sondern kirchliche Homophobie begünstigt die sexuelle Gewalt.

Geradezu hysterisch mutet es an, wie Joseph Ratzinger seit Mitte der 1980er Jahre wiederholt Schriftsätze wider die - angeblich objektiv auf Sünde hingeordnete - Homosexualität verfasst hat und schließlich sogar einen Untergang der gesamten Sittengeschichte beschwor, als das Ringen der Regenbogen-Bewegung um Befreiung und gesellschaftliche Anerkennung Erfolge zeitigte. Die Kirche beharrte darauf, sie sei an neue Menschenrechtsstandards im Umgang mit Lesben und Schwulen nicht gebunden.

Danach war in den Priesterseminaren unter dem Vorzeichen eines bedrückenden Angstklimas eine offene Auseinandersetzung mit Homosexualität faktisch nicht mehr möglich, auch wenn die verantwortlichen Ausbildungsleiter diese wünschten.

Verstecken und Verleugnen hieß das neue Überlebensspiel. Ich selbst bin mit zwei Fällen aus jenen Jahren in Berührung gekommen, in denen Theologen, die sich zuvor einer Auseinandersetzung mit ihrer Homosexualität verweigert hatten, zu sexueller Gewaltausübung übergingen.

Die Kirche hat im letzten Viertel des letzten Jahrhunderts nicht die Gelegenheit wahrgenommen, durch eine angstfreie Kultur der Selbsterfahrung und Reifung in ihren Reihen grundlegende Voraussetzungen für eine Prävention von sexueller Gewalt zu schaffen.