UN-Migrationspakt verwaltet weltweite Ungleichheit

Bild: Pueblo sin Fronteras

Ursachen der Migration wie ungleiche Entwicklung, Kriege und Vertreibungen werden nicht thematisiert

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Der für den 10. Dezember 2018 vorgesehene Festakt im marokkanischen Marrakesch sollte ungetrübt über die Bühne gehen. Den Text des "Globalen Pakts für eine sichere, geordnete und reguläre Migration", der seit 30. Juli vorliegt, hatte außer den ihn erstellenden Schreibern bis vor kurzem kaum jemand gelesen. Als es dann doch einige taten, kam Unruhe in die Staatenwelt. Immer mehr Länder springen ab. Ihre Gründe mögen fragwürdig bis inakzeptabel sein, der UN-Migrationspakt ist es jedenfalls auch.

Beginnen wir mit dem Bild der Migration, wie es dem Pakt zugrunde liegt. Dort heißt es: "Wir anerkennen, dass Migration eine Quelle von Wohlstand, der Innovation und der nachhaltigen Entwicklung in unserer globalisierten Welt ist" (Punkt 8). Die Wirklichkeit spiegelt sich in dieser Definition nicht wieder. Migration mag zwar für einige (Kapital)Gruppen, die sich der Ausbeutung von MigrantInnen bedienen können, eine Quelle des Wohlstandes sein, für die absolute Mehrheit der MigrantInnen - ob durch Kriege oder ökonomische Krisen zur Wanderung in fremde Länder getrieben - stimmt diese Wahrnehmung ebenso wenig wie für die Ansässigen in den Zielländern der Massenwanderungen. Der gehobene Mittelstand mag da und dort von billigen Putzkräften und Altenpflegerinnen profitieren, die weniger Betuchten spüren die Konkurrenz am Arbeits- und Wohnungsmarkt.

Um es klar zu machen: Migration ist Ausdruck zunehmender regionaler Disparitäten und sozialer Ungleichheiten. Der Ökonom Branko Milanovic hat diese für jeden Beobachter erkennbare Schieflage in Zahlen gegossen. Demnach ist das hauptsächliche Verteilungsproblem zwischen Arm und Reich zunehmend dem Faktor Ort gegenüber dem Faktor Klasse zuzuschreiben, in anderen Worten: Es ist entscheidender geworden, wo man geboren wird, als in welcher Schicht man aufwächst. Einkommensdifferenzen von 1:50 (im weltweiten Vergleich) oder 1:8 (innerhalb der EU, z.B. zwischen Bulgarien und Deutschland) sind die entscheidenden Triebkräfte für Wanderungsbewegungen.

Zur völlig falschen Ausgangslage des UN-Migrationspaktes, der den Ausdruck der Ungleichheit mit einem Mäntelchen des Wohlstandes und der Nachhaltigkeit verdecken will, kommt noch ein großer Widerspruch im Text, an dem sich die ihn ablehnenden Staaten reiben. Da verpflichten sich die Unterzeichner des Paktes seitenlang zu allem Möglichen und weniger Möglichen, um dann in Punkt 15 auf die nationale Souveränität hingewiesen zu werden: "Der Globale Pakt bekräftigt das souveräne Recht der Staaten, ihre nationale Migrationspolitik selbst zu bestimmen, sowie ihr Vorrecht, die Migration innerhalb ihres Hoheitsbereiches in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht selbst zu regeln." Was also? "Verpflichtung zur Erleichterung von Arbeitsmigration", wie es in Punkt 21 heißt, oder souveränes nationales Recht? "Verpflichtung zu sicherem Zugang zur Basisversorgung für alle Migranten unabhängig von ihrem Status" (Punkt 31) oder souveränes nationales Recht? "Verpflichtung zur Förderung schneller und günstiger Geldtransfers" (in die Heimatländer der Migranten; Punkt 36) oder souveränes nationales Recht? Der Widerspruch bleibt unaufgelöst.

Negative Auswirkungen von Geldtransfers durch Migranten

Bei den Geldtransfers in die Herkunftsländer der MigrantInnen wird der UN-Pakt besonders ausführlich. Die sogenannten "Remittances" gehören in der neuen Migrationsforschung zu den Hoffnungsträgern einer nachholenden Entwicklung peripherer Länder durch Migration. Schon bei der Entwicklungshilfe in den 1970er Jahren waren derlei von den Zentralräumen abhängige Modernisierungstheorien an der Praxis gescheitert. Nichtsdestotrotz setzen (neo)liberale Kräfte nun wieder auf denselben Effekt. Die Idee dahinter: Wenn es die flexiblen, jungen, familiär wenig verankerten und gut ausgebildeten Menschen aus strukturschwachen Gebieten schaffen, in den reichen Ländern Fuß zu fassen, dann kommt über die "Remittances" Geld in die Herkunftsländer und trägt zu deren Entwicklung bei. Die weltweit am meisten von derlei Rücküberweisungen "gesegneten" Staaten Nepal und Kirgisien (geschätzte 30% des BIP) oder auch die europäischen Beispiele Kosovo (15% des BIP) und Moldawien (21% des BIP) geben ein anderes Bild als das von der meinungsbildenden Migrationsforschung gezeichnete.

Die negativen Auswirkungen von Geldtransfers durch Migranten erklären sich aus mehreren Tatsachen. Zum einen bleibt der Charakter der Abhängigkeit von peripheren gegenüber zentralen Räumen bestehen, dazu fließen die Rücküberweisungen nicht in volkswirtschaftlich nutzbringende Sektoren, sondern über private Kanäle hauptsächlich in familiären Konsum; und dann ist da noch das selbst von einer IWF-Studie angeführte Phänomen zu berücksichtigen, dass massenhafte Rücküberweisungen zu Aufwertungen nationaler Währungen führen und entsprechend die Konkurrenzfähigkeit am Weltmarkt schmälern.

"Remittances" sind also eine Ausdrucksform von Migration, der ihrerseits Ungleichheit zugrunde liegt. Warum der UN-Pakt in Punkt 36 die Teilnehmerstaaten dazu zwingen will, diese Geldtransfers zu erleichtern, erklärt sich nur, wenn man sich ansieht, wer von derlei Arbeitsmigration profitiert. Es sind in erster Linie große Konzerne auf der Suche nach billigen Arbeitskräften, die ihre Produktionskosten möglichst niedrig halten wollen. Wenn es MigrantInnen erschwert wird, Teile ihres im Zielland verdienten Lohnes günstig und rasch ihren Familien daheim zukommen zu lassen, beginnen sie sich nach dem Sinn der Migration zu fragen; das soll verhindert werden.

Der UN-Migrationspakt beharrt in diesem Punkt ganz besonders darauf, dass neben der möglichst ungehinderten Wanderung auch der "freie Kapitalverkehr" garantiert wird. Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich, "eine Roadmap zu entwickeln, die die Überweisungskosten für Remittances von Migranten unter 3% drücken soll." (Punkt 36a) Nur so bleibt neben dem eigentlichen Profiteur von Massenwanderungen auch Anreiz für Menschen in den Herkunftsländern, sich auf den Weg ins vermeintliche Glück zu machen. Wie an vielen anderen Stellen wirkt der UN-Pakt hier als Pull-Faktor.

Was dem heftigen Einfordern günstiger Geldüberweisungsmöglichkeiten widerspricht und freilich im Pakt nicht zur Sprache kommt, ist eine ganze Reihe von UN-Embargos, die häufig und regelmäßig den freien Zahlungsverkehr zwischen Zentralräumen und peripheren Ländern unterbinden. So waren es Anfang der 1990er Jahre aus unterschiedlichen Gründen UN-Embargos gegen Jugoslawien, den Irak und Libyen, die ganze Volkswirtschaften vom internationalen Zahlungsverkehr (und nicht nur von diesem) abschnitten. Insbesondere die serbischen/jugoslawischen Gastarbeiter litten darunter. Die USA wiederum belegen zur Zeit gut zwei Dutzend Staaten mit Wirtschaftssanktionen, die ähnliche Effekte haben. Der gewünschte freie und ungehinderte Zahlungsverkehr für MigrantInnen scheitert also in vielen Ländern an Zwangsmaßnahmen, die meist aus geopolitischen Gründen erlassen werden, ohne von der UNO kritisiert zu werden, wenn sie diese nicht sogar unterstützt.

Migrationsursachen bleiben unbenannt

Worum es im gesamten 34-seitigen Text des UN-Paktes überhaupt nicht geht, sind die Ursachen der Migration. Das müsste linke, kritische Stimmen auf den Plan rufen, was nun langsam geschieht. Ungleiche Entwicklung, Kriege und Vertreibungen als auslösende Faktoren dafür, dass sich Menschen auf den Weg machen (müssen), um anderswo überleben zu können, werden nicht angesprochen.

Im Mittelpunkt des Paktes steht das Individuum: "Der Globale Pakt setzt die Individuen ins Zentrum" (Punkt 15). Der einzelne, der es (über das Mittelmeer, die Balkanroute oder die Mauer an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze) geschafft hat, steht im Mittelpunkt. Wenn Linke nun Solidarität mit ihm oder ihr einfordern, muss man nachfragen dürfen, wer dabei auf der Strecke bleibt. Warum Solidarität mit den Hergekommenen und nicht mit den Daheimgebliebenen üben? Sollen diese Schwächeren und Älteren auch alle in die Zentren der Weltwirtschaft migrieren? Was wird dann aus den Herkunftsländern? Wer soll dort Krisen überwinden, Volkswirtschaften aufbauen, ein Leben für zukünftige Generationen in Angriff nehmen?

Dass die UNO solche Fragen nicht einmal stellt, geschweige denn sie beantwortet, ist enttäuschend genug. Dass Teile der Linken diesbezüglich mitschweigen, grenzt an einen Offenbarungseid einer Bewegung, die sich einst für soziale Kämpfe um Gleichheit und Gerechtigkeit eingesetzt hat. Nun lauten die Postulate Diversität und Weltoffenheit. Ersteres, das Recht auf Anderssein, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, und dort, wo das nicht der Fall ist, muss dagegen aufgetreten werden. Weltoffenheit wiederum übersetzt sich der kritische Betrachter mit den vier kapitalistischen Freiheiten, des ungehinderten Verkehrs von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskraft. Beides - Diversität und Weltoffenheit - ist übrigens mit einem liberalen Weltbild bestens kompatibel.

Was im liberalen Weltbild auf Widerstand stößt, sind wirtschaftliche Schutzmaßnahmen, die nötig wären, um Massenmigrationen zu verhindern. Schwächere Märkte im sogenannten globalen Süden bedürften des Schutzes vor Konkurrenz aus dem Norden. Doch das Gegenteil ist der Fall. Nehmen wir das Beispiel der "Ökonomischen Partnerschaftsabkommen". Solche hat die Europäische Union seit dem Jahr 2000 mit über 30 afrikanischen und karibischen Staaten abgeschlossen. Damit wurde eine weltwirtschaftliche Phase der Entwicklung beendet, die es den ärmeren Volkswirtschaften im globalen Süden erlaubt hat, mittels protektionistischer Maßnahmen in bestimmten Sektoren ihre einheimischen Märkte vor allzu aggressiv auftretendem westlichen Kapital zu schützen. Die Lomé-Abkommen aus dem Jahr 1975 erlaubten dafür die Einhebung von Zöllen.

Mit den neuen Partnerschaftsabkommen bestimmt der totale Freihandel nun die Wirtschaftsbeziehungen im Zeitalter der Globalisierung. Die Folge: Westliche Unternehmen überschwemmen die Märkte im Süden, lokale Bauern, Fischer und Gewerbetreibende halten dieser Konkurrenz nicht Stand, ihre Söhne (und Töchter) migrieren nach Europa. Die Partnerschaftsabkommen der EU schaffen Migration.

Wenn sich vereinzelt Widerstand dagegen regt, wird rigoros gegen die "Diskriminierung" ausländischer Investoren und Geschäftsmacher vorgegangen. So z.B. im Fall Ruanda, wo sich Präsident Paul Kagame gegen den ungeschützten Import US-amerikanischer und EU-europäischer Altkleider wehrt. Diese in Metallboxen des globalen Nordens gesammelten Textilien, kommen zum Aussortieren in Länder wie Rumänien und gehen von dort in den Süden. Der Effekt: Lokale, afrikanische Textilproduzenten fallen dem Konkurrenzdruck der billigen Ware aus dem Norden zum Opfer und müssen sich anderswo eine Existenzgrundlage suchen. Der Weg nach Europa scheint für viele die Lösung.

Statt mittels Freihandelsabkommen Markterweiterungen für überproduzierende Weltmarktkonzerne zu sichern, die ganz unmittelbar Menschen aus ihrer Heimat vertreiben, würden wirtschaftliche Schutzmaßnahmen lokale Kreisläufe am Leben erhalten. Die Menschen hätten ihre Subsistenzgrundlage vor Ort und würden nicht in die Emigration gedrängt.

Linke Ökonomen wie der kürzlich verstorbene Samir Amin fordern deswegen für den globalen Süden Schritte hin zu einer autozentrierten Entwicklung statt einer Open-Door-Politik. Entsprechend ablehnend stehen entwicklungspolitische Stimmen aus der Schule der Dependenztheorie und der Weltsystemtheorie dem UN-Migrationspakt gegenüber. "Warum ist der Pakt gut, trotz des weltweiten 'Brain Drains'?", fragt beispielsweise der Innsbrucker Politologe Arno Tausch in einem Kommentar.

Der mexikanische Entwicklungsökonom und UNESCO-Koordinator für Migration und Entwicklung, Raul Delgado Wise, hält sich bezüglich der Rolle von Migration kein Blatt vor den Mund: "Wenn man sich die Daten ansieht, ist Migration eine Subventionierung des Nordens durch den Süden." Im Gesundheitssektor wird dies besonders deutlich. 38% des britischen und 10% des deutschen medizinischen Personals hat seine Ausbildung in strukturschwachen Ländern Ostmitteleuropas bekommen. Diese tragen die Kosten, während das Zentrum der EU davon profitiert. Der UN-Migrationspakt hat sich zur Aufgabe gestellt, diese Schieflage zu verwalten und damit festzuzurren.

Die politische Rechte erkannte die Brisanz des Themas sogleich und machte das erste Opfer dieser Entwicklung, den Migranten, zum Sündenbock. Damit bedient sie einen rassistischen Diskurs. Viele Linke wiederum weigern sich, die oben beschriebene Funktion von Migration zur Kenntnis zu nehmen und schließen womöglich aus der Tatsache, dass Rechte Migration ablehnen, das Gegenteil machen zu müssen; vielleicht sogar wider besseren Wissen. Wirtschaftsjournalist Norbert Häring sagt einer solchen Linken den Untergang voraus. Die vom UN-Pakt betriebene Förderung der Arbeitsmigration "schadet sowohl den Arbeitnehmern in den Zielländern als auch in der Herkunftsländern", so Häring in seiner Ende Oktober 2018 erschienenen Kritik. "Nutznießer sind die Unternehmer und Kapitalbesitzer in den Industrieländern. Linke Parteien, die so etwas mittragen, sind dem Untergang geweiht und haben ihn verdient."

Die spät aber doch ausgebrochene Debatte um den UN-Pakt lässt jedoch Hoffnung aufkommen. Migration darf und muss kritisch diskutiert, ihre Gewinner und Verlierer benannt werden. Nur so ist es möglich, die rechte Diskurshoheit über das Thema zu brechen.

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