Ich migriere, wohin ich will

Ein Kommentar zur Migrationsdebatte

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ich habe im Laufe meines Lebens schon so einige Länder bereist und habe vor, das in Zukunft weiterhin zu tun. Durch jede Passkontrolle, die ich bislang passiert habe, wurde ich anstandslos durchgewunken. In der Türkei erhielt ich ohne jegliche Probleme eine Aufenthaltsgenehmigung weit über das übliche, drei Monate gültige Touristenvisum hinaus. Ich bin frei. Ich kann auf dieser Welt jeden Ort besuchen, den ich besuchen möchte - und wenn ich längerfristig bleiben möchte, wird mir kaum ein Land diesen Wunsch verwehren.

Woran liegt das? An zwei Gründen: Zum einen an meinem deutschen Pass. Er ist ein globaler Türöffner, überall gerne gesehen. Zum anderen daran, dass ich in der Lage bin, mich selbst zu finanzieren und das auch nachweisen kann. Diese zwei Privilegien machen mich aus Sicht der nationalen Behörden weltweit zu einem besseren Menschen als jemanden, der zum Beispiel aus Syrien, Iran oder der Türkei stammt. Komplett irre, oder?

Der Pass fiel mir in den Schoß. Rein zufällig kam es, dass ich in Köln geboren wurde. Nicht in Teheran, Damaskus oder Istanbul. Dieser Pass ist ein Geschenk von unschätzbarem Wert. Und der zweite Aspekt? Da werden viele nun sagen: Das hast du dir erarbeitet. Du warst eben fleißiger als andere, die weniger Wohlstand haben. Doch das stimmt eigentlich nur zu einem recht überschaubaren Teil.

Weil ich das unglaubliche Glück hatte, in einer Demokratie, einem Rechtsstaat geboren worden zu sein, der obendrein zu den reichsten Staaten der Welt gehört, konnte ich Abitur machen, studieren und mich dann frei für einen Beruf entscheiden. Allesamt Voraussetzungen, die es mir leicht gemacht haben, zumal ich einen deutschen Namen habe, und auch der ist, zumindest innerhalb Deutschlands, ein Türöffner. Zugleich erlebte und erlebe ich, wie Freunde und Kollegen mit nichtdeutschen Namen immer wieder erhebliche Probleme haben, wenn es darum geht, zu Vorstellungsgesprächen oder Wohnungsbesichtigungen durchgelassen zu werden. Sobald man das Pech hat, dass der eigene Name nicht deutsch klingt, schlägt der Alltagsrassismus mit voller Wucht zu.

Bild: BMI

Der falsche Pass

In Istanbul lernte ich vor einigen Jahren eine syrische Studentin kennen, die vor dem Ausbruch des Krieges in die Türkei gekommen war, um dort zwei Auslandssemester zu machen. Durch den Krieg konnte sie nicht mehr zurückkehren. Ihre Heimatstadt war längst ein Trümmerhaufen. Die Türkei in Richtung EU verlassen konnte sie aber auch nicht. Sie saß im Niemandsland fest. Die europäischen Konsulate verweigerten ihr ein Visum. Warum? Einzig und allein, weil sie zufällig einen syrischen Pass hatte. Dass sie jung, gebildet und gut ausgebildet war, interessierte die Bürokraten nicht. Sie fühlte sich elend. Obwohl sie es geschafft hatte, in Istanbul zu arbeiten und in einer WG mit anderen Syrern lebte, es also besser hatte als die meisten Flüchtlinge, fühlte sie sich gefangen. In der Türkei sah sie keine Zukunft, von der Vergangenheit war sie abgeschnitten. Lebensplanung ist in so einer Situation kaum möglich. Und alles nur wegen einem Fetzen Papier, den man bei der Geburt erhält.

In Deutschland moderiere ich regelmäßig Lesungen und andere Veranstaltungen mit Schriftstellern, darunter viele aus der Türkei und Iran. Während ich selbst problemlos für Auftritte ins Ausland reisen kann, ist es umgekehrt für die türkischen und iranischen Kollegen ein Glücksspiel. Manchmal, erhalten sie ein Visum. Wenn ihre Namen im jeweiligen Konsulat bereits bekannt sind, schrumpfen die Probleme in der Regel. Aber einen Autor nach Deutschland zu holen, der noch nie hier war, artet rasch in einen Nervenkrieg aus. Es gab einen Fall, in dem die betreffende Person ein Visum für exakt 24 Stunden erhalten hat: Anreise am Tag der Veranstaltung, Abreise direkt am nächsten Morgen. In einem anderen Fall wartete ein Kollege rund acht Stunden an einem Konsulat - das ihn dann wieder nach Hause schickte. Es könne ja jeder behaupten, Schriftsteller zu sein, er solle Belege mitbringen. Die offizielle Einladung genügte als Beleg offenbar nicht, und die Mühe einer simplen Internetsuche überforderte die Beamten. Der Grund für all den überflüssigen Ärger: Der "falsche" Pass.

Noch immer sträubt sich ein gewisses Klientel gegen die jahrzehntealte Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und auch bleiben wird. Zum Glück! Wie großartig ist dieses Land doch überall dort, wo es vielfältig und divers ist und nicht bloß "deutsch-deutsch", um Fatih Cevikkollu zu zitieren.

Aufreger UN-Migrationspakt

Weshalb ich es für notwendig halte, all das aufzulisten? Weil wieder mal die Falschen über Migration debattieren, weil manch einer sogar so weit geht, das Grundrecht auf Asyl infrage zu stellen. Weil in Kürze der UN-Migrationspakt unterzeichnet werden soll, der gerade zum großen Aufreger wird. In rechtsradikalen Verschwörungsspinnerkreisen kursiert er schon lange - da wird er als Beleg für die Umvolkungsängste von AfD, Identitären, Pegida und all den anderen rassistischen Lautsprechern zitiert. Und deren Anhänger glauben das, wie üblich.

Da wird allerlei gemunkelt über dieses angeblich im Geheimen verhandelte Papier - das seit Monaten für jeden öffentlich einsehbar im Netz steht. Man könnte ihn ja einfach mal lesen. Man könnte verstehen, dass dieser nicht bindende Pakt im Kern nur eines will: Die Lage von Migranten (allen Migranten, nicht nur der Flüchtlinge) global zu verbessern. Man könnte verstehen, dass Deutschland längst sämtliche Punkte erfüllt, dass sich durch die Unterzeichnung hierzulande folglich absolut nichts ändert. Man könnte, wenn man wollte, wenn man an Fakten interessiert wäre. Aber das ist wohl zu viel erwartet ...

Letztlich betrifft dieser Pakt jeden von uns. Jeder von uns kann irgendwann Migrant oder, wenn er Pech hat, Flüchtling werden.

Ich habe eingangs erläutert, welche Privilegien ich durch reinen Zufall fürs Leben mitgekriegt habe. Das beinhaltet natürlich auch die Frage: Was wäre, wenn ich diese Privilegien nicht hätte? Was wäre, wenn in Deutschland ein Krieg ausbrechen würde? Würde ich dann hierbleiben? Oder würde ich flüchten, würde ich versuchen, mein Leben und das meiner Angehörigen zu retten? Mit höchster Wahrscheinlichkeit Letzteres.

Und was wäre, wenn Deutschland mir nicht wirtschaftlich die Bedingungen liefern würde, unter denen ich ein gutes Leben führen kann? Würde ich bleiben und mich einfach meinem Schicksal ergeben? Nein, selbstverständlich nicht! Ich würde mir ein Land suchen, das bessere Bedingungen bietet und alles daransetzen, dorthin zu gelangen und dort Fuß zu fassen! Und da ich das Glück des deutschen Passes habe, würde mir das mit allerhöchster Sicherheit auch gelingen. Wer bin ich, dass ich anderen Menschen dieses Privileg der freien Wahl und Entscheidung absprechen könnte? Wer seid Ihr, die Ihr glaubt, Ihr hättet das Recht, anderen Menschen das zu verweigern, von dem Ihr selbst tagtäglich profitiert?

Und was das Auswandern betrifft: Sollte es so weit kommen, dass die rassistischen, von Hass zerfressenen Rechtsradikalen irgendwann wieder das Ruder in Deutschland übernehmen - ja, dann würde ich gehen, ohne mich nochmal umzudrehen, und ich würde diesem Land keine Träne nachweinen. Aber zum Glück ist die Wahrscheinlichkeit dafür recht gering.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.