Bayern: "Heimatkapitalismus"

Panzerkampfwagen V Panther, der von MAN in Nürnberg entwickelt wurde. Bild: Stahlkocher/CC BY-SA-2.0

Wie man am eigenen Erfolg scheitert (I)

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Die Große Koalition Bayern, der Sozialpakt zwischen christlichsozialer Landperipherie einerseits und sozialdemokratischen Großstadtzentren andererseits und auch zwischen einer autoritären Dauerregierung und einer vormals liberalen Medien- und Diskurskultur in Bayern ist in der Landtagswahlnacht vom 14. Oktober 2018 mit einem lauten Knall geplatzt.

Die Christlich-Soziale Union hat in Gestalt der Freien Wähler die Quittung dafür bekommen, dass sie spätestens mit der Edmund-Stoiber-Politik den ländlichen Raum und seine Leute abgehängt hat. Die Sozialdemokratische Partei hat in Gestalt der Grünen gerade in München nicht nur eine Quittung, sondern die Kündigung dafür bekommen, dass sie schon mit ihrer Hans-Jochen-Vogel-Politik von einer Arbeiterpartei zu einer Möchtegern-Akademikerpartei geworden ist.

Diese Wählermilieu-Analyse konnte man in unterschiedlicher Differenzierung und Qualität in den Tagen nach der Landtagswahl in den Medien verfolgen. Eine interessantere, fundamentalere Diagnose dafür, dass und warum es mit der absoluten Parlamentsmehrheit der bisherigen Regierungspartei aus ist, hat die Süddeutsche Zeitung zwei Tage vor der Wahl unter der Überschrift "Wer san mia?" versucht.

Richtig verweist sie darauf, dass sich die "traditionellen Milieus" auflösen oder wandeln. Ein Hauptfaktor dafür sei die ausgeprägte Zuwanderung nach Bayern und der diese antreibende wirtschaftliche Erfolg Bayerns. Passend zur immer penetranteren neoliberalen Redaktionslinie der Süddeutschen Zeitung bleibt aber das ungeschrieben, was der informierte und kritische Leser gerne näher erläutert gehabt hätte: Warum das Kapitalismus-Erfolgsmodell Bayern über die Jahrzehnte hinweg eine zunehmende Delegitimierung in den Wahlergebnissen erlebt hat - zuletzt angetrieben durch die peinliche Amtskruzifixshow, die Heimatvortäuschung und den künstlichen Theaterdonner in Sachen Migration der letzten Monate.

Immerhin deutet die "SZ" aber mit dem Finger in die richtige Richtung: "Die CSU stand jahrzehntelang für den Fortschritt des Landes ebenso wie für die Wahrung der Tradition. Jetzt könnte sie zum Opfer ihres eigenen Erfolges werden."

Vor einem Jahrzehnt hat Albrecht Goeschel schon einmal diese Frage gestellt: "Bayern - Ein deutsches Erfolgsmodell am Ende?"1 In seiner damaligen Analyse hat er einige weniger angenehme Antworten gegeben, die sich jetzt freilich als richtig herausgestellt haben. So ist genau die Zweiteilung Bayerns in den Exportgewinner und Wachstumsschwerpunkt München und München-Umland einerseits und den Wachstumsverlierer Bayerische Nordostzone andererseits die Voraussetzung für Prosperität nach dem klassischen kapitalistischen "Zentren-Peripherie Modell". Diese Zweiteilung ist aber auch die Ursache für die "Revanche der Peripherie" dieser Landtagswahl. Eine Revanche, wie sie Bayern exemplarisch für andere Territorien in Europa und darüber hinaus erlebt hat.

Wenn aber aus dem Platzen der alten Milieukoalitionen in Bayern etwas anderes entstehen soll als eine Fortsetzung des Gehabten in neuer Kostümierung, dann muss zunächst einmal gründlich analysiert werden, was es mit dem "Erfolgsmodell Bayern" und seinem Auslaufen eigentlich auf sich gehabt hat.

1. Bayern: Kriegsgewinnlerökonomie

Der in den 1960er Jahren mit vorzüglichen Realanalysen des westdeutschen Wirtschaftslebens bekannt gewordene Fachautor Kurt Pritzkoleit hat einen der wichtigsten Gründe für den kontinuierlichen Wachstums-, sprich: Mehrwert- und Profitproduktionsprozess Bayerns treffend analysiert: Bayern habe als einziges Besatzungsgebiet der Westalliierten bis auf seine pfälzische Exklave die Kapitulation der Deutschen Wehrmacht und die Zerschlagung des Dritten Reiches territorial unbeschädigt überstanden.2 Ergänzend stellt Werner Abelshauser in seiner exzellenten "Deutschen Wirtschaftsgeschichte"3 auch noch dar, dass Bayern das "Glück" hatte, das Hauptgebiet der US-Besatzungszone zu sein.

Auch dort habe der angloamerikanische Luftkriegsterror zwar Lebensräume der Zivilbevölkerung brutal zerstört, aber mitnichten das süddeutsche Industriepotenzial nennenswert dezimiert. Selbst Rüstungszentren wie Schweinfurt seien trotz massivster Luftangriffe kaum beeinträchtigt worden. Insgesamt habe die Industrie in den Westzonen bei Kriegsende über ein Anlagekapital verfügt, das um 20 Prozent höher gelegen habe als vor dem Krieg. Dieses Potenzialwachstum galt insbesondere auch für Bayern. Der "NS-Rüstungs-Keynesianismus" (Werner Abelshauser) trieb die Umwandlung Bayerns aus einem Agrarland in ein Industrieland massiv voran.

Dies verwundert nicht, da sich die im Vorfeld und im Verlauf des Krieges ernorm gesteigerte Herstellung beispielsweise von Panzerfahrzeugen gerade auch in bayerischen Produktionsstätten vollzog: (Kraus-Maffei, MAN, Nibelungenwerke Passau etc.).4

Gleiches galt für den Bau von Jagd-, Bomben- und Transportflugzeugen. Hier spielten BMW, Dornier und Messerschmitt mit ihren bayerischen Betrieben eine zentrale Rolle.

Neben der enormen Steigerung des Produktionspotenzials in Bayern selbst kam es nach dem Ende der Kriegshandlungen und im Zusammenhang der Aufteilung des Reichsgebietes in Besatzungszonen außerdem zu einem massiven Zustrom von Fluchtkapital aus den kurzzeitig angloamerikanisch besetzten Regionen Mittel- und Ostdeutschlands. Mit der Räumung dieser Gebiete durch die Westalliierten verlagerten zahlreiche Industrieunternehmen, u.a. Siemens & Halske (Gera-Erfurt), ihre Produktionsanlagen und Verwaltungen nach Bayern.

Außer dieser Anlagekapitalflucht nach Bayern bedeuteten die bis 1950 nach Bayern strömenden etwa 1,9 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen eine enorme Steigerung des Wirtschaftspotenzials Bayerns. Auch in offiziösen Darstellungen wird hervorgehoben, dass die im Zuge von Flucht und Vertreibung zuströmende Erwerbsbevölkerung teilweise deutlich besser qualifiziert war als die schon Ansässigen.5

Für die gerne so genannte "Bayerische Wirtschaft", d.h. für das Industriekapital mit Standort in Bayern, ergaben sich aus diesem kriegswirtschaftlichen Zusammenfluss von zusätzlichen Arbeitskräfteressourcen und zusätzlichem Anlagenkapital besonders günstige Möglichkeiten für die Produktion von Mehrwert und Profit.

Insgesamt hatte Bayern im Laufe des Jahres 1946 bereits wieder 50 Prozent seiner Vorkriegsproduktion erreicht. Der bayerische "Heimatkapitalismus" wurde nicht zuletzt dadurch gefördert, dass sich in Erlangen-Nürnberg eine spezifische Variante Nationalsozialistischer Wirtschaftsphilosophie etabliert hatte: die so genannte "Marktforschungsschule" des späteren Protagonisten der "Sozialen Marktwirtschaft" Ludwig Erhard. Er lieferte die passende Wirtschaftsideologie für den bayerischen Heimatkapitalismus und wurde bayerischer Wirtschaftsminister in dem vom US-Besatzungsregime installierten Kabinett Wilhelm Hoegner.

Soweit es dann um die Ausgestaltung dieser "Sozialen Marktwirtschaft", insbesondere die entscheidende Frage der Organisationsprinzipien einer Fortsetzung des traditionellen "Sozialversicherungsstaates" ging, war es die bayerische SPD, die sich einer modernen Gesamtversicherung in den Weg stellte - zusammen mit den Angestelltenverbänden, der Unternehmerseite, dem Mittelstand und der Bauernschaft.6

Vorteilhaft für das Wachstum der Wirtschaft in Bayern war auch dessen nach Kriegsende immer noch großer Landwirtschaftssektor. Durch den Wegfall der Agrargebiete im vormaligen Ostteil Deutschlands, die bis dahin als Agrarlieferanten des Reiches fungiert hatten und bei der gleichzeitigen flüchtlingsbedingten starken Bevölkerungszunahme in den Westgebieten, kam es dort in den ersten Nachkriegsjahren zu einer schweren Unterernährungskrise. Diese führte in einigen Ländern zu erheblichen Verlusten an Arbeits- und damit Produktionsvolumen.7 Der starke Landwirtschaftssektor dämpfte diese Negativeffekte in Bayern.

Zuletzt zeigte die amerikanische Militärregierung kein besonderes Interesse an der direkten Demontage von Industrie- und Infrastrukturanlagen. Die viel nachhaltigere und langfristig wirksamere umfassende Enteignung von technologischem Expertenwissen, Betriebsgeheimnissen, Patenten etc. der Industrie durch die USA schlug sich weniger in aktuellen Produktionsausfällen als in einer Schwächung der prospektiven Konkurrenzfähigkeit der Industriewirtschaft Bayerns nieder.8

Der eigentliche Wachstumsschub setzte in Bayern ein, als das während der Kriegswirtschaft im Rheinland und Ruhrgebiet akkumulierte Industriekapital nach Anlagemöglichkeiten, Arbeitskräften und Industrieflächen im westlich-kapitalistischen Teil Deutschlands suchte. Bayern wurde, auch weil es schon während des Krieges eine Art Schonraum gegenüber dem angloamerikanischen Bombenterror war, zu einem Vorranggebiet für das Überschusskapital aus dem rheinisch-westfälischen Wirtschaftsraum.

Die Bezeichnung Bayerns als "Luftschutzkeller des Reiches" (Katja Klee)9 trifft präzise den militärökonomischen und milieumentalen Gehalt des bayerischen "Heimatkapitalismus" .

2. München: Die Bayern-Lounge

In den für das Erfolgsmodell Bayern so entscheidenden 1950er und 1960er Jahren wurden Investitionsentscheidungen noch nicht vom Finanzmarkt vorgegeben, sondern von Unternehmern mit ihrer Hausbank erörtert und entschieden. Aus dieser Phase stammt die mit der bayerischen Landtagswahl vom Oktober 2018 wohl auch endgültig geplatzte funktionale "Große Koalition" zwischen SPD-München und CSU-Bayern. Diese hatte ihren Wirkmächtigkeitsgipfel in den Zeiten der angeblichen "Heimlichen Hauptstadt" München des noch nicht vereinigten Deutschland mit seinem Schröder- und Merkel-Berlin.

Schon im Adenauer-Deutschland gehörte es in den rheinisch-westfälischen Großbürgerfamilien dazu, dem Herrn Sohn oder dem Fräulein Tochter ein paar Semester an der Universität München, der Technischen Hochschule München oder gar der Kunstakademie München zu finanzieren. Papa und Mama hatten ja auch das Ski-Landhaus in Reit i. Winkl oder in Oberstdorf etc. und das Segelboot am Tegernsee - also warum nicht ein Zweigwerk im "Investitionsparadies Bayern"?

Die Kunst- und Kulturstadt München, ihre Lebensart und ihr Freizeitwert waren ein entscheidender so genannter "weicher Standortfaktor" für die Prosperität der Stadt München selbst und für das Erfolgsmodell Bayern.

Das heute in München hegemoniale, hochgradig geschichtsvergessene Milieu der "Kulturlinken", mittlerweile die Kinder- und Enkelgeneration der antiautoritären Protestbewegung, haben auf ihrem Display nicht mehr oder niemals gehabt, dass es eben nicht Berlin oder Frankfurt am Main oder Hamburg waren, in denen dann zuerst die Werte und Spielregeln des "Wirtschaftswunder-Westdeutschland" fundamental in Frage gestellt wurden, sondern gerade die Bayern-Lounge München. Die "Gruppe Spur" an der Akademie der Bildenden Künste München war die Erfinderin des "Antiautoritären".10